Am Schluss der Dezember-Nationalratsdebatte beteuert Bundesrat Johannes Baumann, dass niemand die «Presse neutralisieren» wolle. Er bestreitet, dass eine «ausländische Beeinflussung» zu einer Verschärfung der Pressekontrolle geführt habe. In seinem Schlusswort mahnt er:
Wenn unsere Soldaten an der Grenze Wacht halten sollen, dann darf doch verlangt werden, dass im Hinterland keine Ausschreitungen der Presse erfolgen, die die Sicherheit unseres Landes gefährden können.
Er hat in dieser Beziehung eine ähnliche Auffassung wie General Guisan und Nachrichtenchef Masson.
Die Ratsdebatte endet, aber das Misstrauen gegenüber der Presseüberwachung bleibt. In der Gazette nennt Pierre Grellet die Zensur durch das Militär einen Fehler, der ins Auge springe.
In einem nach militärischer Hierarchie organisierten Büro, welches ein Amt verwaltet, das vor allem das Zivilleben betrifft, kann es vorkommen, dass die Kompetenzen im umgekehrten Sinn verteilt sind als der Grad, dass ein Korporal seinen Beruf viel besser kennt als der Oberst und trotzdem ist es der Korporal, der die Befehle seines hierarchischen Vorgesetzten ausführen muss.
Bundeshauskorrespondent Georges Perrin, nebenamtlich Pilets Verbindungsmann zum Radio, zieht folgendes Fazit über die Zensurdebatte, die Bundesrat und Vollmachtenkommission lieber vermieden hätten:
Eine solche Debatte war von hohem Nutzen und die [Vollmachten-] Kommission beging einen grossen psychologischen Fehler, als sie sich darauf versteifte, sie umgehen zu wollen. Die Behörden sind jetzt gewarnt. Sie können en connaissance de cause einschreiten und gewisse Erscheinungen, welche die Presse zurecht beunruhigt haben, zum Verschwinden bringen. Wenn die Behörden jetzt bald handeln, dann wird die Zensur, deren Notwendigkeit niemand bestreitet, zur Zufriedenheit aller funktionieren. In diesem Sinn hat die Debatte vom Dienstag die Aufgabe der Regierung enorm erleichtert.
Pilet wird die Meinung seines Vertrauensmanns Perrin geteilt haben.
13. Zum zweiten Mal Bundespräsident
Für Journalisten und Politiker mag die Zensurfrage brennend sein, das Volk hat andere Sorgen. Pilet erhält Zuschriften von gewöhnlichen Bürgern und Kantonsregierungen, die eine grosszügigere Praxis bei der Zuteilung von kostenlosen oder verbilligten Zug- und Postautofahrten für Militärpersonen fordern, die aus familiären oder beruflichen Gründen heimreisen müssen. Das innenpolitisch wichtigste Thema für Bundesrat und Bevölkerung ist die Lohnausfallentschädigung für Soldaten. Ihr Fehlen war ein Hauptgrund für die sozialen Spannungen im Weltkrieg 1914–18. Am 20. Dezember beschliesst der Bundesrat eine provisorische Regelung einer staatlichen Lohnausfallentschädigung für Arbeitnehmer im Aktivdienst. Ein sozialpolitischer Meilenstein.
Was die schweizerische Öffentlichkeit aufwühlt, ist der von Stalin am 30. November 1939 entfesselte Winterkrieg gegen Finnland. Nach der Aufteilung Polens hat die Sowjetunion auf kalte Weise die baltischen Staaten geschluckt und ultimativ die Abtrennung finnischer Gebiete gefordert. Als Helsinki das russische Ultimatum ablehnt, marschiert die zahlen- und waffenmässig hoch überlegene Rote Armee in Karelien ein. Die Finnen leisten heldenhaften Widerstand. Das Schweizervolk – Neutralität hin oder her – nimmt leidenschaftlich Partei für das bewunderte «Brudervolk» im Norden. Die Zeitungen berichten begeistert von den ersten Erfolgen der finnischen Verteidiger. Selbst die Fachzeitung Der Sport vernachlässigt Fussball und Eishockey, um die Taten der auf Skiern kämpfenden, weiss uniformierten finnischen Patrouilleure in Eis und Schnee zu schildern. Die Gazette veröffentlicht eine Serie betitelt «Finnland im Kampf mit den moskowitischen Banditen».
Der Bundesrat sorgt sich um die Gesundheit zweier verdienstvoller Mitglieder. Obrecht hat der unmenschlichen Arbeitslast, die er im Volkswirtschaftsdepartement bewältigt, Tribut zahlen müssen. Eine Herzattacke bindet ihn ans Krankenbett. Motta, der nach einem Schlaganfall im Frühjahr seine Arbeit im August wieder aufgenommen hat, erleidet einen zweiten Hirnschlag und fällt ebenfalls aus. An der Gesamterneuerungswahl der Regierung am 13. Dezember fehlen beide.
Die Bundesversammlung bekundet den zwei Bettlägerigen ihre Sympathie und wählt sie wieder, Obrecht mit der höchsten Stimmenzahl von allen, 166. Der seit Jahren von der Linken angefeindete Motta bringt es immerhin auf 140 Stimmen. Die Sozialisten, die den Parteiausschluss von Nicole und Genossen und die damit verbundene Abwanderung vieler welscher Wähler noch nicht verkraftet haben, markieren bloss Präsenz. Die von ihnen gegen die Freisinnigen Baumann und Wetter ins Feld geschickten Pro-forma-Kandidaten Johannes Huber und Emil Klöti kommen bloss auf 40 respektive 49 Stimmen. Schlecht schneiden Baumann mit 132 und Minger mit 130 Stimmen ab. Von beiden weiss man, dass sie an Rücktritt denken. Pilet, vor vier Jahren noch Klassenletzter, ist mittlerweile unumstritten. Er macht gute 151 Stimmen.
Nach seiner ebenfalls ehrenvollen Wahl als Bundespräsident kann sich Pilet über die lobenden Artikel von Béguin, Grellet und Savary freuen. In La Suisse schreibt Pierre Béguin, er kenne kaum einen Magistraten mit einer derartigen Aufnahmefähigkeit und Anpassungsgeschmeidigkeit. Béguin gibt zu, dass man wenig weiss über die Rolle, die Pilet in den Beratungen des Bundesrats spielt. Die Geheimnispflicht werde gut gehütet, ebenso wie der Respekt der bundesrätlichen Solidarität.
In diesem hohen Gremium, in dem die Verständigung oft durch die Erteilung einer weitgehenden Autonomie an jeden Einzelnen erzielt wird, gilt er [Pilet] indessen nicht immer als besonders bequemer Charakter und wenn wir es wagen zu schreiben, er sei «störrisch wie ein Maultier», geschieht dies nicht aus mangelndem Respekt, sondern weil er sich gerne dessen rühmt.
Béguin legt den Finger auf Schwachpunkte des neuen Bundespräsidenten. Der «ausgezeichnete Techniker» habe nicht die «Natur eines Volksführers». Eine gewisse Reserviertheit des Charakters halte ihn von der für die Regierenden so nützlichen «parlamentarischen Geselligkeit» fern und er habe «wenig Lust an Intrigen». Im Bundesrat gebe es keine undankbarere Aufgabe als diejenige Pilets und keine schwerere Hinterlassenschaft als diejenige, die er angetreten hat. Béguin meint damit die Sanierung der hoch verschuldeten Bundesbahnen. Man habe manchmal das Gefühl gehabt, dass all das Unverständnis und all der Widerstand Pilet zwar nicht entmutigt, aber enttäuscht habe. Gleichwohl setzte er sein Werk fort, ohne auf Beifall zu schielen oder Dankbarkeit zu erhoffen.
Indem er mit klarem Geist die Geschicke des Landes lenkt, kann und wird er zeigen, dass sein Talent und sein Charakter auf der Höhe seiner Verantwortung sein werden.
In der Gazette betont Pierre Grellet einen andern Aspekt von Pilets Charakter:
Jedermann ist sich über die glänzende Intelligenz des Magistraten einig, der zum zweiten Mal zu den höchsten Ehren aufsteigt. Aber das vielleicht Beste an ihm ist seine Verbundenheit mit dem heimatlichen Boden, die erdhafte Verwurzelung dieses Mannes mit derart städtischen Allüren. M. Pilet-Golaz ist eine Illustration der helvetischen Weisheit, wonach die Kenntnis der Schweiz von der Kenntnis des eigenen Geburtskantons herrührt.
Pilets vielfältige, offene, umfassende Bildung schöpfe «aus einem autochthonen, aus den überlagerten Schichten sich folgender Generationen geformten Grund». Grellet erinnert an den schönen Satz des grossen französischen Sozialistenführers Jean Jaurès, wonach wir durch die «Unverrückbarkeit der Gräber und das Schaukeln der Wiegen» zutiefst mit unserer Heimaterde verbunden sind.
Unsere nationale Aufgabe ist es mehr denn je, sich um unseren höchsten Magistraten zu scharen, der zum grössten Teil die Last unseres Schicksals tragen wird, der aufgerufen sein wird, Entscheide zu treffen, von denen Sein oder Nichtsein der Nation abhängen kann.
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