J. Breitenstein, Olten, lobt Moos’ «kaum zu übertreffende Objektivität»:
Ich bin sehr unangenehm überrascht zu vernehmen, dass Herr von Moos wegen seinem Nationalratsmandat künftig nicht mehr zu uns sprechen könne. Als freier Bürger erlaube ich mir, Ihnen höflich zu erklären, dass mir Ihre Erklärung kleinlich erscheint und gar nicht zu Ihrem bisherigen Wirken als Bundesrat passt. Wenn Sie diese Massnahme bewirken ohne bessere Begründung, werden Sie sehr viel Unwillen erwirken. Wenn es zu einer Protestversammlung käme in dieser Angelegenheit, so müssten Sie Zweifel bekommen über die Opportunität dieser Massnahme.
Zum letzten Satz setzt Pilet Randstrich und Fragezeichen. Spürt er, dass er einen Fehler machte, als er den neu gewählten Nationalrat als aussenpolitischen Chronisten absetzte? Kaum. Es liegt nicht in seiner Natur, eigene Fehler einzusehen. Und schon gar nicht, sie einzugestehen. Qui s’excuse, s’accuse .
Wenn Pilet in den nächsten Tagen die vielen kritischen Artikel liest, die man ihm im Departement ausgeschnitten hat, muss er allerdings merken, dass er sich in die Nesseln gesetzt hat. Die Neue Bündner Zeitung kann nicht verstehen, wieso ein Nationalrat im Radio nicht über aussenpolitische Fragen sprechen solle:
Mit solchen Massnahmen, die schliesslich dazu führen, in Presse und Radio nur noch die amtlich bewilligte Meinung zuzulassen, fördert man jedoch die geistige Widerstandskraft nicht, sondern macht sie erst recht unsicher und zerfahren. Das kann sich eines Tages bitter rächen. Vielleicht überlegt man sich also in Bern die Sache noch einmal und besinnt sich eines Besseren.
Der Winterthurer Landbote und die Basler National-Zeitung – wie die Neue Bündner Zeitung eher regierungskritische linksbürgerliche Zeitungen – hauen in die gleiche Kerbe.
Am 5. Januar bittet Pilet Moos brieflich, «am 11. Januar um 14.15 Uhr bei mir vorzusprechen». Am 9. Januar fällt die «Weltchronik» aus. Stattdessen ertönt Grammofonmusik, was die Presse erst recht auf den Sprung bringt. Unter dem Titel «Nicht mehr zu überbietende Angstmeierei» brandmarkt das Volksrecht das «Redeverbot Bundesrat Pilets». Das Zürcher Sozialistenblatt wittert «Liebedienerei gegenüber gewissen Grossmächten». Die National-Zeitung vermutet, man wolle die aussenpolitische Übersicht überhaupt aus dem Programm streichen.
Pilet ist sich einiges an Kritik gewohnt, aber Breitseiten aus dem eigenen bürgerlichen Lager sind eine Überraschung. Kein Wunder, ist er verstimmt. Am 11. Januar spricht Moos ordnungsgemäss bei Pilet vor. Der Bundesrat liest dem Nationalrat die Leviten und gibt ihm Anweisungen für seine nächste Sendung. Er müsse den Hörern erklären, dass der Ausfall der Weltchronik vom 9. Januar keineswegs auf Geheiss des Postdepartements, sondern auf Moos’ eigenen Wunsch geschehen sei. Er müsse «aufs Kategorischste den Irrtum zerstreuen», dass Pilets Anweisungen auf Druck des Auslands erfolgt seien. Moos werde dann seinen Vortrag halten, «als wäre nichts geschehen». Moos’ Nachfolge werde in Etappen und «in Übereinstimmung mit mir» erfolgen. Er, Pilet, denke nicht an einen Nachfolger, sondern mindestens an zwei.
Pilet fasst die Unterredung in einem spröden Brief zusammen. In seinem Antwortschreiben fügt sich Moos, widerspricht jedoch Pilets Meinung, dass die Stellung eines Nationalrats nicht mit der Anstellung als wöchentlicher Radiokommentators vereinbar sei.
Wie befohlen, fügt Moos seinem Brief an Pilet die Sätze hinzu, mit denen er die nächste Weltchronik am 16. Januar beginnen wird:
Am letzten Dienstag war es mir leider aus persönlichen Gründen nicht möglich, meinen Vortrag zu halten. Heute aber möchte ich ihn beginnen mit der Bemerkung, dass die Entscheidung, die der Chef des Eidgenössischen Post- und Eisenbahndepartements in bezug auf meine Vorträge eingenommen hat, in keiner Weise irgendwie durch eine Einflussnahme weder von der einen noch von der andern Seite entstanden ist. Sie entspricht allein seiner Auffassung von der Rolle des schweizerischen Rundspruchwesens in der heutigen Lage.
Ein paar Tage später äussert sich Léon Savary in der Tribune de Genève zum Fall Moos. Er bezieht sich dabei auf eine «sichere Quelle», die nur Pilet selber gewesen sein kann. «Man» wolle keineswegs auf einen Vortrag verzichten, der auf objektive Weise die internationale politische Lage erkläre, beruhigt Savary. Allerdings sei das für das Radio zuständige Departement «in allem, was die Aussenpolitik betrifft, an grosse Vorsicht gebunden».
Das Radio hat auf diesem Gebiet zweifellos noch striktere Aufgaben als die Presse, denn diese ist bei uns eine private Angelegenheit, während das Radio zu allen Zeiten ein konzessionierter öffentlicher Dienst und in Kriegszeiten sogar völlig verstaatlicht ist.
Savary hält es für unangebracht, einem Parlamentarier auf Dauer eine feste Senderubrik zuzugestehen. Dies verschaffe diesem gegenüber seinen Ratskollegen einen Vorteil, den er in einer Wahlperiode zu seinen Gunsten ausnützen könnte. Obwohl man diesen Vorwurf Moos nicht machen dürfe, müsse das Departement verhindern, «dass sich die Parteipolitik der Ätherwellen bemächtigt». Anderseits wäre es übertrieben, Bürger, die ein legislatives Mandat ausüben, vom Radio auszuschliessen. Als Mittellösung könnte man Parlamentarier gelegentlich zu Problemen aus ihrem Expertenbereich als Mitarbeiter beiziehen, ohne jedoch einen unter ihnen exklusiv zu bevorzugen. Savary gibt Pilets Meinung wieder. Für einmal ist der eigenwillige Literat his master’s voice .
Pilet macht sich sofort auf die Suche nach einem oder mehreren Nachfolgern für Moos. Sein Auge fällt auf den als vorsichtig geltenden ETH-Geschichtsprofessor Jean Rudolf von Salis. Wie Moos schreibt auch von Salis aussenpolitische Berichte für Die Tat . Als militärischer Hilfsdienstpflichtiger ist er der Pressestelle des Politischen Departements zugeteilt, die sein Studienfreund Rezzonico leitet. Am 8. Februar 1940 beauftragt Pilet von Salis, vorerst stellvertretend einzuspringen, wenn Moos verhindert sei. Der Bundespräsident erteilt ihm keine Weisungen, sondern sagt ihm, er solle einfach so sprechen, wie er bisher in Zeitungen und Zeitschriften geschrieben habe. Da von Salis noch anderweitig beschäftigt ist – er schreibt Bundesrat Mottas Biographie –, wird Moos bis zum Oktober die Weltchronik weiter allein lesen.
Am 6. Januar nimmt Bundespräsident Pilet das Beglaubigungsschreiben des neuen britischen Gesandten David Victor Kelly (später Sir David Kelly) entgegen. Kelly hat auf Posten in Argentinien, Portugal, Mexiko, Belgien, Schweden, Ägypten und zuletzt im Foreign Office in London reiche diplomatische Erfahrung sammeln können. Die Schweizer Gesandtschaft in London beschreibt ihn als einen «der liebenswürdigsten Beamten des Foreign Office». Minister Kelly ist irischer Herkunft und Katholik. Die Schweiz kennt er gar nicht, aber er erklärt sich glücklich, in ein geschichtsträchtiges Land zu kommen, «dessen hohe Zivilisation und Hingabe an humanitäre Werke seiner Freiheitsliebe gleichkommen». Kelly wird in den nächsten beiden Jahren viel mit Pilet zu tun haben.
Als Bundespräsident verfasst Pilet Spendenaufrufe für Hilfswerke wie Pro Infirmis. Zeitungen und Zeitschriften wünschen von ihm Beiträge. Meist muss er aus Zeitgründen absagen. Immerhin schreibt er einen kleinen Aufsatz für L’écolier romand , in dem er sich an die eigene Jugend erinnert – lang ist’s her. Als vieux monsieur will er – keine Angst! – nicht moralisieren, sondern fordert die Kinder auf, im Schnee zu spielen und sich des Lebens zu freuen.
Ein Bundespräsident wird mit Briefen von Unbekannten überhäuft, die Ratschläge geben, kritisieren oder etwas von ihm wollen. Er verwaltet eine aus einer privaten Spende gespeiste Schatulle zur Unterstützung von notleidenden Bittstellern und muss abklären, ob diese einen Zustupf verdienen oder nicht. Pilet hat dies schon 1934 gewissenhaft getan.
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