Dann sei die Wendung gekommen, aber nicht von den «zahlreichen Handels- und Industrievereinen, sondern wie gewöhnlich von den «Kleinen und Unbekannten»:
Die Referendumsaktion ist ein Sieg des Volkes über die parlamentarischen Winkelzüge; sie ist ein Beweis dafür, was möglich ist, wenn sich einige wenige unerschrockene Bürger für eine gerechte Sache ins Zeug legen.
Es folgte eine Serie von weiteren Grossinseraten, in denen der erwachte «schlafende» Elefant – ein auf dem Rücken liegendes Elefäntchen ist die Signatur des Aktionskomitees – gegen die «Pensionskassenmilliarde» vom Leder zog. Immer wieder wurde dieselbe einfache Botschaft dem Leser in den Kopf gehämmert: Die Schweiz kranke an Staatsverschuldung – genannt wird die «astronomische Zahl von über 10 000 Millionen». Hauptübel seien die Verstaatlichung, der Bürokratismus, die Subventionen «und letzten Endes das Versagen der Elite!» Unsinnige Steuern brächten die Fleissigen, Intelligenten und Tatkräftigen um die Früchte ihrer Arbeit. Man habe dem Volk eingeredet, die Verstaatlichung der Eisenbahnen wäre ein Segen und jetzt seien «die Bundesbahnen ein Mühlstein an seinem Hals». Obschon die SBB längst konkursreif seien, «schanzt sich das Bundespersonal Vergütungen zu, die weit über jenen der schweizerischen Maschinenindustrie stehen».
Unablässig wiederholte der schlafende Elefant seine einfache Botschaft:
Das Bundespersonal ist zeit seines Lebens frei von Arbeitslosigkeit und materiellen Sorgen, und ausgerechnet diese Leute, die am besten für ihr Alter vorsorgen könnten, verlangen heute vom Volk, dass es das Milliardendefizit in den Pensionskassen übernehme.
In einer Karikatur auf der Titelseite von Béguins Bulletin Commercial sitzt ein bequemer Herr mit Eisenbahnermütze auf einem aus den Buchstaben « m i l l i a r d » gebildeten Sofa – mit einer langen Zahl 1 als Lehne – und liest mit übereinander-geschlagenen Beinen seine Zeitung. Legende: «1 Milliarde für die Pensionierten des Bundespersonals? Nein.» Ein Nein in ganz dicken Buchstaben.
Béguin polemisiert in seinem Blättchen besonders vehement gegen «General Bratschi», «vor dessen Wort im Departement Pilet und in der Bundesversammlung manche sonst so stolze Säule umfällt». Bratschi wehrt sich geschickt gegen die demagogischen Angriffe Béguins. Auch Pilet leistet seinen Teil. Den ihm nahestehenden welschen Journalisten erklärt er die historischen Umstände und die versicherungstechnischen Fehlrechnungen, die kurz nach dem Weltkrieg zur Schaffung zweier insolventer Pensionskassen für Bundesangestellte führten.
Wegen der Mobilmachung finden wenig Abstimmungsveranstaltungen statt. Pilet, der 1935 mit zahlreichen starken öffentlichen Auftritten mithalf, der Wehrvorlage seines Freundes Minger zum Sieg zu verhelfen, beschränkt sich auf eine Versammlung, natürlich in seinem Lausanne. Er erklärt dem Publikum im «Métropole», wieso die von den Gegnern ins Feld geführte «Milliarde» eine «Phantommilliarde» sei. Das durch die längere Lebensdauer und die tiefer als erwarteten Zinsen entstandene technische Defizit der beiden Versicherungskassen sei kleiner.
Wenn das Schweizervolk das Gesetz ablehnt, wird es nicht davon entbunden, die 600 Millionen für die Pensionskassen zu bezahlen, denn es handelt sich um eine formelle Verpflichtung der Eidgenossenschaft. Wenn man glaubt, dass der Staat die 1919 eingegangen Versprechen brechen kann, begibt man sich auf einen gefährlichen Weg.
Unendlich wichtiger als die paar Millionen, die der Bund für die Kassensanierung ausgeben müsse, «sei die ehrliche Mitarbeit des Staatspersonals, um die zunehmend schwieriger werdenden Aufgaben, die sich aus dem Kriegszustand ergeben, zu einem guten Ende zu führen.» Langer Applaus am Ende der «glänzenden Schlussworte» ( Gazette ), und dann darf sich das Publikum einen langweiligen Film anschauen, der die von den Bundesbeamten auf den verschiedensten Gebieten geleistete tüchtige Arbeit illustriert.
Als am Sonntagnachmittag die Abstimmungsergebnisse hereintröpfeln, ist bei Bund, Parteien und Beamtenverbänden die Ernüchterung gross.
Bei einer Stimmbeteiligung von 62% wird das «Verständigungsgesetz» mit 481 035 Nein zu 280 238 Ja klar abgelehnt. Nur Genf, Tessin, Basel-Stadt und Uri stimmen Ja. Pilets Waadt, auch Pilets Lausanne, sagen Nein. Eine Ohrfeige für den Bundesrat.
12. Der Nationalrat muckt auf
Als die Bundesversammlung Ende August dem Bundesrat beinahe unbeschränkte Vollmachten erteilte, machte sie es ihm zur Pflicht, zweimal jährlich dem Parlament Bericht zu erstatten. Danach können die Räte entscheiden, ob diese Beschlüsse weiter in Kraft bleiben. Ihren ersten Bericht lieferte die Regierung am 21. November ab.
Vielen Parlamentariern ist der Bundesratsbeschluss vom 8. September über das Nachrichtenwesen ein Dorn im Auge. Gegen den Willen der mächtigen Vollmachtenkommission, welche die «Zensurdebatte» auf die Februarsession verschieben wollte, erzwingen sie eine sofortige Diskussion. Verschiedene Nationalräte, vor allem solche, die selber journalistisch tätig sind, kritisieren weniger den Bundesratsbeschluss an sich als die von der Abteilung Presse und Funkspruch angewandte Praxis. Johannes Huber, der scharfsinnige «Kronjurist» der SP:
Es ist unseres Erachtens nicht angängig, dass eine solche Machtfülle militärischen Instanzen überantwortet wird, und zwar in Angelegenheiten, in denen militärischen Instanzen die nötige Qualität fehlt. Dass wir mit dieser Kritik recht haben, das beweist die Praxis, vor allem jene gewisser Territorialkommandanten und ihrer Pressestellen.
Arthur Schmid (Oberentfelden), der in Zensurfragen hellhörige Redaktor des sozialistischen Freien Aargauers , ist «grundsätzlich» mit dem Bundesrat nicht einverstanden.
Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Bundesrat seit dem Ausbruch des Krieges den Wunsch hegt, das Schweizervolk solle möglichst schweigen, es solle sich wenn immer möglich auch in der Presse zu wichtigsten und dringlichsten Fragen, die letzten Endes unsere Existenz, die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit betreffen, nicht aussprechen.
In Pressefragen hört der Rat gerne auf den 64-jährigen Chefredaktor der liberalen Basler Nachrichten Albert Oeri. Zensor zu sein, meint Oeri, sei eine «schwierige und undankbare Sache», deshalb gelüste es ihn nicht, selber «Zensor des Zensors» zu sein. Er bestreitet auch nicht die Nützlichkeit der Zensur in gewissen Zeiten. Oeri fragt sich allerdings, was mit einer Mahnung der Zensur anzufangen sei, keine «unkontrollierten Nachrichten» zu bringen.
Ums Himmels willen: jeder von uns Unglücklichen von der Presse weiss doch, dass 99%, ja 999,999% aller Nachrichten, die wir bringen müssen, eben wohl oder übel unkontrolliert sind. Das gilt selbst von Heeresberichten. Wenn es z.B. heisst: «Verstärkte Artillerietätigkeit im Moselgebiet», so können wir das doch nicht kontrollieren.
Oeri befürchtet, dass der Bundesrat «ausländischen Beeinflussungsversuchen» nachgeben und damit den Weg zur «Gesinnungsneutralität» öffnen könnte.
Mir wäre es eine besondere Beruhigung, wenn ich von Seiten des Bundesrates die Erklärung erhalten könnte, dass er gegenüber ausländischen Beeinflussungsversuchen fest bleiben werde.
Es ist für Rat und Öffentlichkeit kein Geheimnis, dass deutsche Amtsstellen und Zeitungen der schweizerischen Presse vorwerfen, sie sei nicht neutral, sondern franko- und anglophil. Dies begann 1933 mit der Machtübernahme Hitlers. Ernst von Weizsäcker klagte schon als Gesandter in Bern, die Lektüre der Schweizer Zeitungen versalze ihm den Morgenkaffee. Obschon eigentlich ein Freund der Schweiz, liest er als Staatssekretär dem Gesandten Hans Frölicher ständig die Leviten über die Sünden der Schweizer Presse. Seit Kriegsbeginn beschweren sich deutsche Diplomaten regelmässig beim Politischen Departement. So protestierte am 22. November 1939 Legationsrat Freiherr von Bibra, de facto Landesgruppenleiter der NSDAP und starker Mann in der Berner Gesandtschaft, gegen einen Artikel des polnischen Gesandten Thytus Sas Komarnicki in der Gazette de Lausanne und redete von einem «grotesken Verstoss gegen die Neutralität». Darauf wurde ihm mitgeteilt, die Presseabteilung werde dafür sorgen, «dass solche Publikationen nicht mehr vorkommen». Schon früher hatte Bibra die Worte fallen lassen, «dass der Führer gegen die Schweiz sehr schlecht gestimmt sei, und dass die jüngsten Entgleisungen der Schweizer Presse ihn zu Äusserungen veranlasst hätten, die, wie der Berliner sage, bis zu äusserst an die Palmenspitze gingen».
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