Deshalb sind Vorurteile so bequem. Du hast dich in einem Haus niedergelassen, und jetzt ist die Landstrasse vergessen und die Reise und all die Anstrengungen und die ewige Bewegung, die Gefahren und die Unsicherheit. Du hast dich vor dem Abenteuer verschanzt. Du hast dich in einem kleinen Haus verkrochen, wo es mollig warm und bequem ist. Inzwischen hast du schon Angst, aus dem Fenster zu sehen; also machst du lieber auch noch die Fensterläden zu. Jetzt hast du Angst, die Tür zu öffnen. Denn wer weiß – eine unbekannte Wirklichkeit könnte eintreten und deinen ganzen Komfort und deine ganze Gemütlichkeit und deine Sicherheit durcheinander wirbeln.
Und darum stellt ihr euch lieber wie Blinde an. Aber ihr seid nicht blind – ihr seid nur schlau. Aber eure Schläue hat euch blind gemacht. Euer Verstand hat immer sofort ein Urteil parat. Und mit diesem Trick meidet ihr die unbequeme Reise. Urteilen ist eine Ausflucht. Es kommen viele Leute, alle möglichen Menschentypen zu mir, aber im Grunde können sie in zwei Grundtypen aufgeteilt werden: in diejenigen, die bereit sind, die Augen aufzumachen, und diejenigen, die sich weigern, die Augen aufzumachen.
Mit einem, der bereit ist, die Augen zu öffnen, kann viel geschehen. Mit einem, der nicht dazu bereit ist, kann gar nichts geschehen. Er ist lebendig begraben, er lebt schon nicht mehr. Er lässt keinen frischen Wind durch sein Dasein wehen, er lässt keine neuen Blumen in sich aufblühen. Er lässt nichts Unbekanntes zu. Er hat Angst. Er fährt in eingefahrenen Gleisen, immer nur im Kreis herum, denn ein Kreis ist das Sicherste, was es gibt. Man stößt ständig auf die immer gleichen Dinge – er lebt wie eine Grammophon-Nadel auf einer Schallplatte: wieder und wieder und wieder dieselben Rillen. Und dann klagt ihr darüber, wie langweilig alles ist! Daran seid nur ihr selber schuld. Einer, der sich langweilt, ist einer, der mit geschlossenen Augen lebt. Langeweile ist nur die Folge davon. Einer, der mit offenen Augen lebt, langweilt sich nie.
Das Leben ist ein solcher Zauberwald, es ist so magisch – ein ewiges Wunder! Augenblick für Augenblick geschehen um dich herum Millionen von Wundern – du aber lebst mit geschlossenen Augen, hinter deinen Vorurteilen. Du gehst an einer Blume vorbei, und wenn jemand sagt: „Wie schön!“, dann siehst du hin, ohne wirklich hinzusehen. Du sagst: „Ach ja, eine Rose, wie schön!“, aber du wiederholst damit nur eine Erinnerung aus der Vergangenheit wie eine Schallplatte. Dieselben Worte hast du schon oft und oft gesagt, viel zu oft. Jeder Blume hast du das gleiche gesagt. Leere Worte ohne Bedeutung. Du sagst es nur, weil es dir unangenehm wäre, nichts zu sagen. Neben dir sagt einer: „Schöne Blume!“ und wenn du nichts darauf sagst, dann macht das einen schlechten Eindruck. Also sagst du etwas: „Ja, wie schön“, sagst du, und alle beide habt ihr weder die Blume noch deren Schönheit gesehen. Es war ein Klischee. Und dann klagt ihr darüber, wie langweilig alles ist.
Du liebst eine Frau – und es vergehen noch nicht einmal ein paar Stunden, die Flitterwochen sind noch nicht vorbei, und schon hat sich Staub auf deine Frau gelegt. Ganz so schön, wie sie noch vor ein paar Stunden war, ist sie jetzt nicht mehr. Ganz so wichtig wie vorhin ist sie dir nicht mehr.
Was ist geschehen? Du meinst, sie jetzt zu kennen – dein Urteil steht fest… Jetzt ist sie für dich keine Fremde mehr – jetzt ‚kennst‘ du sie. Aber glaubst du wirklich, einen Menschen kennen zu können? Ein Mensch ist ein sich ständig verändernder Strom. Du kannst nie und nimmer einen Menschen ‚kennen‘.
Am Morgen ist die Blume anders als am Abend – weil der Morgen anders ist! Die Sonne geht auf und die Vögel singen, und die Blume ist ein Teil des Ganzen. Auf den Blütenblättern der Blume spiegelt sich der Morgengesang der Vögel wider, sie sind durchdrungen vom Licht des neuen Tages, vom eben erwachten Leben.
Am Nachmittag hat sie sich verändert. Alles um sie herum hat sich verändert. Die Sonne ist nicht mehr dieselbe, die Vögel sind verstummt, und die Blume neigt sich ihrem Ende zu. Gleich geht die Sonne unter, und der Abend naht. Die Blume lässt den Kopf immer tiefer hängen – eine Stimmung der Trauer, die sie noch nicht kannte. Es ist nicht mehr die gleiche Blume vom Morgen. Jetzt, wo es Abend ist, stirbt sie, ihr Herz ist getränkt von Traurigkeit. Könnte sie singen, wäre es ein trauriges Lied. Und wenn du sie aufmerksam betrachtest, zeigt dir die Blume deinen eigenen Tod. Du kannst in der Blume beobachten, wie sich sterbendes Leben und beginnender Tod mischen. Wie sich Leben langsam in Tod verwandelt. Diese Stimmung hat mit all den früheren Stimmungen nichts mehr zu tun.
Wenn ihr noch nicht einmal eine Blume in ihrer Ganzheit erkennen könnt, mit ihren unerschöpflichen Stimmungen, wie könnt ihr da glauben, einen Menschen zu kennen? Ein Mensch ist ein aufblühendes Bewusstsein – die prächtigste Blüte, die das Leben in Jahrtausenden der Evolution hervorgebracht hat.
Wie kannst du die Frau kennen, mit der du lebst? Sobald du zu glauben beginnst, dass du sie kennst, ist es aus: Du hast dir ein Urteil gebildet; du hast bereits begonnen, dich nach einer anderen Frau umzuschauen. Nein, wenn deine Augen rein bleiben, wird dir deine eigene Frau ewig ein Rätsel bleiben. Du wirst vielen Stimmungen und atmosphärischen Veränderungen in ihr begegnen, das Wesen deiner Frau wird sich dir in vielen Gesichtern offenbaren. Und so ist es mit deinem Mann, deinem Kind, deinem Freund, und mit dem Wesen deines Feindes.
Niemand kann je etwas kennen. Aber der Verstand ist listig. Der Verstand will wissen, denn nur Wissen macht sicher. Alles Fremde macht unsicher. Wenn du von allen Seiten vom Unbekannten umringt bist, bekommst du Angst und weißt nicht, wo du bist. Wenn du die Situation nicht durchschauen kannst – wenn du die Menschen, die Blumen und Bäume deiner Umgbung nicht kennst, wenn du dich nicht mehr auskennst, dann verlierst du dein Selbstgefühl, dann wird dir deine Identität genommen.
Wenn du dir dagegen sicher bist, dass du deine Frau und dein Kind, deine Freunde, deine Gesellschaft, dies und das kennst, und wenn du dich außerdem noch in Geschichte und Geographie auskennst, dann verleiht dir dieses ganze Wissen, in dem du dich wiegst, das sichere Gefühl, zu wissen, wer du bist: einer, der Bescheid weiß! Das Ego kann stolz sein Haupt erheben…
Wissen ist Futter für das Ego. Unwissen ist für das Ego Gift. Aber der Tod des Ego bedeutet dein Leben; das Leben des Ego ist dein sicherer Tod. Lass dich nicht nieder. Das ist gemeint, wenn es heißt, dass ein Sannyasin heimatlos lebt.
In der indischen Tradition war das so. Man wurde zum Wanderer ohne Heimat, ohne Wurzeln und Anker, und hat keine Identität mehr. Man lebt mit dem Unbekannten von Augenblick zu Augenblick – alles ist Überraschung. Für euch ist nichts eine Überraschung. Ihr wisst alles schon, wie kann euch da noch etwas überraschen? Über nichts staunt ihr mehr. Ihr werdet über alles staunen, sobald ihr in Unwissenheit lebt. Für unwissende Augen ist alles neu – dann gibt es nichts mehr, womit du vergleichen kannst, nichts, was dich an Vergangenes erinnert, nichts, was dir die Zukunft deutet – alles ist einmalig. So war es nie zuvor, und so wird es nie wieder sein. Was du in diesem Augenblick verfehlst, hast du für immer verfehlt. Es gibt keine Rückkehr. Jeder Augenblick bringt eine neue Stimmung des Daseins. Entweder genießt und lebst du sie aus, oder du gehst daran vorbei. Mit Wissen verpasst du sie, denn du sagst, „ich weiß schon.“
Wenn ich dir zurufe: „Komm heraus aus deinem Haus – die Sonne ist aufgegangen, was für ein Anblick!“, dann sagst du: „Ich weiß; wie oft bin ich schon früh morgens aufgestanden und habe es gesehen. Ich weiß, wie es aussieht – lass mich schlafen.“ Aber die Sonne dieses Tages hat es nie zuvor gegeben. Und der, der du heute bist, der war noch nie da. Und der, der ich heute bin, der dich herausruft, den hat es auch noch nie gegeben.
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