Der alte Mann hatte einen jungen Sohn – es war sein einziger. Dieser Sohn begann nun, die Wildpferde zu zähmen; eine Woche später stürzte er von einem der Pferde und brach sich beide Beine. Wieder kamen die Leute zusammen. Und die Leute sind überall ‚die Leute‘; überall sind sie wie ihr. Und wieder urteilten sie sofort. Wie schnell ein Urteil feststeht! Sie sagten: „Du hattest recht. Was du geahnt hast, hat sich wieder einmal bestätigt. Es war kein Segen, es war doch ein Unglück. Dein einziger Sohn hat seine Beine verloren! Wer soll jetzt die Stütze deiner alten Tage sein? Jetzt bist du ärmer denn je.“
Der alte Mann sagte: „Könnt ihr denn nicht einmal aufhören mit eurem Urteilen? Ihr geht schon wieder zu weit – sagt einfach, dass mein Sohn seine Beine gebrochen hat. Keiner weiß, ob das nun ein Unglück oder ein Glück ist. Keiner. Es ist wieder nur ein Bruchstück, und wir bekommen nie mehr als Bruchstücke zu sehen. Das Leben zeigt sich uns nur in Fragmenten, aber unsere Urteile fällen wir immer über das Ganze.“
Ein paar Wochen später geschah es, dass ein Krieg mit dem Nachbarland ausbrach, und alle jungen Männer wurden zur Armee eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er ein Krüppel war.
Die Leute kamen zusammen, weinend und klagend, denn aus jedem Hause wurden die jungen Männer mit Gewalt abgeholt. Und es bestand keine Aussicht, dass sie je wiederkämen, denn das Land, mit dem Krieg geführt wurde, war ein sehr großes Land, und die Schlacht war von vornherein verloren. Also würden sie nicht zurückkommen…
Das ganze Dorf weinte und klagte, und sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Wie recht du hattest, Alter! Weiß Gott, wie recht du hattest – es war ein Segen: dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens bleibt er bei dir. Unsere Söhne werden wir nie wieder sehen. Er wenigstens lebt und ist bei dir, und nach und nach wird er schon wieder das Laufen lernen. Vielleicht wird er noch ein bisschen humpeln, aber er wird wieder in Ordnung kommen.“
Der alte Mann wehrte ab: „Es ist einfach unmöglich, mit euch Leuten zu reden. Ihr könnt es einfach nicht sein lassen – ewig diese Urteile. Niemand weiß etwas! Sagt doch nur, dass eure Söhne in die Armee geholt worden sind, und mein Sohn nicht. Aber ob das nun ein Segen ist oder ein Unglück, das weiß niemand. Kein Mensch wird das je wissen. Nur Gott weiß es.“
Und wenn wir sagen: „Nur Gott weiß es“, dann heißt das, dass nur das Ganze es weiß. Urteile nicht, sonst wirst du dich niemals mit dem Ganzen vereinigen können. Dann wirst du immer nur an den Bruchstücken kleben, und aus den geringsten Anlässen große Schlüsse ziehen. Und das ist etwas, wo die Sufis dich immer wieder mit der Nase drauf stoßen: wie leicht du vergisst, dass es Dinge gibt, die über deinen eigenen Horizont hinausgehen. Dass jeder über Dinge urteilt, von denen er keine Ahnung hat. Euer Bewusstsein steht auf einer sehr niedrigen Sprosse der Leiter. Ihr lebt in einem dunklen Tal voller Trauer und Unglück, und aus euren dunkelsten Abgründen heraus beurteilt ihr sogar noch einen Buddha. Selbst einen Buddha könnt ihr nicht gelten lassen, ohne ihn zu beurteilen. Selbst über einen Jesus sitzt ihr zu Gericht. Ihr urteilt nicht nur über ihn, ihr kreuzigt ihn sogar. Er wird von euch vor Gericht gezerrt, für schuldig befunden, verurteilt und bestraft.
Ihr lebt im tiefen, nassen Tal. Nicht einmal in euren Träumen habt ihr die Gipfel gesehen. Ihr könnt sie euch nicht einmal vorstellen, denn selbst dazu müsst ihr wenigstens einmal einen Schimmer von ihnen gesehen haben. Von etwas, das euch absolut unbekannt ist, könnt ihr nicht einmal träumen; denn was ihr träumt, entsteht aus dem, was ihr kennt. Ihr könnt von Gott nicht träumen, weil ihr euch Gott nicht vorstellen könnt; ihr könnt euch den Gipfel nicht vorstellen, das Leben nicht vorstellen, das in einem Buddha pulsiert. Aber ihr urteilt.
Ihr sagt: „Ja, dieser Mann ist ein Buddha, und der da ist keiner; dieser ist erleuchtet, und der nicht.“ Einem Erleuchteten könnt ihr damit nicht schaden, weil niemand ihm schaden kann, aber euch selber schadet ihr mit euren Urteilen.
Sobald du geurteilt hast, hörst du geistig zu wachsen auf. Urteilen heißt stehen bleiben. Alle Bewegung hat aufgehört, alles Forschen, alle Mühe weiterzuwachsen. Dein Urteil steht fest; die Akten sind abgeschlossen. Und der Verstand liebt es, von festen Urteilen auszugehen, weil ihm jede Bewegung unbequem ist. Ein nicht abgeschlossener Prozess ist immer ungewiss, gefährlich. Aber wer zu einem endgültigen Schluss gekommen ist, hat ‚das Ziel erreicht‘; jetzt ist die Reise vorüber.
Wer die Reise zum Höchsten antreten will, muss sich grundsätzlich davor hüten zu urteilen. Sicher, leicht ist es nicht, es ist fast unmöglich – denn ehe du dich versiehst, hat dein Verstand schon ein Urteil parat. Aber wenn du dir Mühe gibst, bildet sich in dir nach und nach eine hochempfindliche Wachheit aus. Und in diesem Zustand kannst du einfach das Urteilen sein lassen. Und sobald dir das gelingt, bist du religiös geworden. Dann weißt du nicht mehr, was richtig und was falsch ist.
Normalerweise nennen wir gerade die Leute religiös, die „alles“ wissen – die genau wissen, was gut und was böse ist, was man tun darf und was man lassen soll. Sie tragen die zehn Gebote unterm Arm. Das macht die ‚religiösen‘ Leute so selbstgerecht und dickhäutig. Sie sind am Ziel angelangt. Sie haben aufgehört zu wachsen. Ihr Fluss ist zum stehenden Tümpel geworden. Wer wachsen will, wer fließen will – und alles Wachsen und Fließen geht bis ins Unendliche weiter, denn Gott ist kein fester Punkt, sondern die ständige Bewegung allen Lebens, der Schöpfung überhaupt – wer also mit Gott mitgehen will, der muss immerzu in Bewegung bleiben, immerzu unterwegs sein.
Es ist wirklich so: die Reise geht nie mehr zu Ende. Wo ein Weg endet, beginnt der nächste. Und hinter jedem Berggipfel entdeckst du noch einen höheren. Du erreichst diesen Gipfel, du willst dich gerade ausruhen in dem Gedanken, jetzt endlich dein Ziel erreicht zu haben – und plötzlich siehst du einen noch höheren Gipfel vor dir. Von Gipfel zu Gipfel geht es weiter, eine endlose Reise. Gott ist eine Reise ohne Ende… Nur die Allerentschlossensten, nur diejenigen, die so mutig sind, jeden Gedanken ans Ziel aufzugeben, einfach nur unterwegs zu sein und sich vom Leben, vom Fluss tragen zu lassen, nur im Augenblick zu leben – und zwar restlos –, nur solche Menschen sind fähig, mit Gott zu gehen.
Erfolgsstreber sind mittelmäßig. Alle eure Erfolgshelden sind Durchschnittsmenschen. Was kann man schon erreichen? Wenn sich das Höchste ‚erreichen‘ ließe, dann wäre es schon deshalb nicht das Höchste, weil es sich erreichen lässt. Wenn du es erreichen kannst, wie kann es da das Höchste sein?
Wie kannst du das Ziel erreichen? Du?! Dann wäre das Ziel ja kleiner als du. Nein, das Ziel ist unerreichbar. Es gibt überhaupt kein Ziel – und das ist auch gut so. Und weil es so ist, gibt es für das Leben keinen Tod. Jedes Ziel würde es töten. Und nach dem Ziel würdest du überflüssig.
Jemand, der zuviel urteilt, hindert sein eigenes Wachstum auf allen Ebenen. Haben sich deine Urteile erst einmal festgesetzt, wirst du unfähig, überhaupt etwas Neues zu sehen. Dein Urteil stellt sich in den Weg und lässt es sich nicht gefallen, durch etwas Neues in Frage gestellt zu werden. Von da an lebst du mit geschlossenen Augen. Keineswegs als Blinder – blind ist keiner – aber alle benehmen sich wie Blinde; dazu kommt es ganz automatisch: sie lassen sich durch ihre Urteile blenden. Wer die Augen aufmacht, muss erst die Angst überwinden, dass er vielleicht etwas sehen könnte, vielleicht einer Wirklichkeit in die Augen schauen muss, die er nicht wahrhaben will; die Angst, dass sein Urteil als falsch entlarvt wird.
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