Es kann uns dabei auffallen, dass im Bewusstsein nur das Bild erscheint – von Ablenkungen abgesehen –, nicht aber der Aufmerksamkeitsstrom.
Besprechung der 7. Übung
Wir können den Vorgang des Konzentrierens auf ein Vorstellungsbild schematisch darstellen:
Wir lenken die Aufmerksamkeit durchaus bewusst auf das Bild, die Bewegung aber, das Strömen in das Bild hinein bleibt außerhalb der Erfahrung: Wir erleben nicht, wie das Bild zustande kommt, nur die Schwierigkeit, es zu halten.
Wächst jedoch die Intensität des Aufmerksamkeitsstromes, so beginnen Veränderungen sowohl am Bild als auch im Tun, im Hervorbringen und Halten des Bildes. Das Bild wird lebendiger, kraftvoller, das Tun wird mehr und mehr als wirklich gefühlt, man hat den Eindruck, etwas zu tun – am Anfang des Übens tritt das nicht auf.
Wenn wir diese Veränderungen im Üben festigen können, das heißt wenn sie regelmäßig bei jeder Übung bemerkbar sind, dann können wir einen weiteren Schritt tun. Wir schauen den Gegenstand nochmals an, diesmal mit einem globalen Blick, so wie wir ein menschliches Antlitz anschauen, ohne auf Einzelheiten (Form der Nase, des Kinnes usw.) einzugehen: Meistens können wir ja nicht über die einzelnen Züge Rechenschaft geben. Das hindert uns nicht, das Gesicht wiederzuerkennen, es uns auch vorstellen zu können, weil wir eben einen globalen, mehr fühlenden Eindruck von ihm haben. Wir schauen den Gegenstand mit einem solchen Blick an. Das führt meistens zu einem noch lebendigeren Bild, und wir können merken, dass die Aufmerksamkeitsbewegung eine leise Gefühlsfarbe bekommt.
Wächst nun die Aufmerksamkeitskraft weiter, so können wir weitere Veränderungen im Üben erleben. Das Bild wird immer leuchtender – umso mehr, als wir es geschehen lassen –, wird größer und kommt uns näher. Das sind Ausdrucksformen, die nicht genau das Erlebnis wiedergeben, sie deuten nur eine Richtung an, in welche sich die Veränderung bewegt. Der Übende wird diese Beschreibungsversuche in der Erfahrung wiedererkennen, zurechtrücken, wird dann wissen, was mit ihnen gemeint ist. Man hat die Empfindung, das Bild und der Übende rücken einander immer näher, bis sie dann zur völligen Deckung kommen, das heißt, man erlebt sich mit dem Bild identisch . Das Bild ist bei diesem Erlebnis keineswegs mehr statisch: Was man als Identität erlebt, ist nicht ein Löffel, sondern ein Löff eln , nicht eine Tasse, sondern ein «Tassen», ein Verb, ein Funktionieren. Zunächst kann das als befremdend empfunden werden; setzt man den Übungsweg fort, so wird immer klarer, was man als Identität erlebt. Bei diesem Grad der Konzentriertheit verliert man die Worte und Begriffe, lässt sie wegfallen, es bleibt ein reines «Das», eine Bewegung, die zum Begriff führen könnte, und mit dieser Bewegung der denkenden-vorstellenden Aufmerksamkeit fühlt man sich identisch, mit der Entstehungsidee, dem Wesen des Gegenstandes: Man wird zu seinem schöpferischen Verstehen. Wir sind beim reinen Denken / Vorstellen angelangt.
Besprechung der 8. Übung
Die geschilderte Erfahrung hat eine Ähnlichkeit mit Erlebnissen im Theater oder Konzert, wo wir selbstvergessen das Geschehen auf der Bühne oder der Musik mitmachen, bis zum Gerührtwerden von der Fiktion – ist sie eine Fiktion? –, nur dass bei der Übung die ästhetische Anziehung, das von außen Gebotene fehlt, wir tun alles. Gerade das ist die Stärke der Übung und führt zum nächsten Schritt, der beim ästhetischen Erleben kaum vorkommen kann. Im Hintergrund des Identitätserlebnisses steht nämlich die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit unser seelisch-geistiges Wesen ist. 8 Gerade deshalb erleben wir sie für gewöhnlich nicht, wir sind identisch mit ihr. Es wird uns nur bewusst, wo die Aufmerksamkeit zu einer Form wird, ihr jeweiliges Objekt. Wird die Aufmerksamkeit ungewöhnlich intensiv, so tritt die Identität mit dem Objekt bewusst auf. Ganz besonders, wenn das Objekt selbst schon aus der Aufmerksamkeit besteht, wie beim Bild oder Gedanken – «aktive Aufmerksamkeit» –, und von außen nichts gegeben ist.
Die Aufmerksamkeit kann an Intensität grenzenlos zunehmen. Wächst sie über das Identitätserlebnis hinaus, tritt wieder eine Veränderung im Erleben auf. Wir werden jetzt die Aufmerksamkeitsbewegung in das «Bild» hinein, erleben das aber noch vor dem «Bild» – wo es noch nicht «gebildet» ist –, das nun, wie oben beschrieben, das lebendige Zeichen einer lebendigen Bedeutung – Entstehungsidee genannt – ist, ein Zeichen, ungetrennt von seiner Bedeutung. Das kommt sonst nur beim Kleinkind während des Spracherwerbs und im archaischen Bewusstsein vor, wo Denken und Sprechen ungetrennt identisch sind. « Vor dem Bild» bedeutet weder räumliches noch zeitliches Vorangehen, der ganze Vorgang spielt sich in der Gegenwärtigkeit ab; trotzdem wird die sich zum Bild hin bewegende Aufmerksamkeit noch im formfreien Zustand erlebt; das heißt, sie erlebt sich selbst, wird dadurch zum Selbst, zum selbstbewussten Ich. Dieses Erlebnis kann auch «Ich-bin» genannt werden.
Hier wird das Denken / Vorstellen in seinem reinsten, begriffslosen, bildlosen ( vor dem Bild), begriffsbildenden, formbildenden Bewegen erlebt. Das war das Hauptziel der Übungsreihe. Zugleich und untrennbar davon gelangt der Übende zum Ich-bin-Erleben, zur ersten möglichen rein geistigen Erfahrung, wenigstens für einen Augenblick, die wie ein Verstehen aufblitzt. Nur durch die Erfahrung der eigenen Gegenwärtigkeit kann Gegenwart – das ewige Jetzt – und die Gegenwärtigkeit von allen anderen Wesen erfahren werden. Sonst wäre niemand da, der sie erfahren könnte. Unsere schematische Darstellung nimmt damit folgende Form an:
Diese Erfahrung ist gleichbedeutend mit dem Entstehen der «wahren Zeugenschaft» – so wird es im Neuen Testament genannt, 9 der menschlichen Wesenheit, die nicht automatisch mit den Seelenfunktionen, mit dem Denken, mit Emotionen, Willensimpulsen vermischt ist, sondern auf diese – wenigstens auf das Denken – schauen, sie gebrauchen kann. Dieses Ich-bin oder Selbst ist die Erfahrung des eigenen geistigen Seins, deshalb auch unabhängig von Erfolg, Misserfolg, Anerkennung, Zurückweisung, der Meinung anderer Menschen, auch gefeit vor überflutenden Emotionen. Anstatt derer beginnt das erkennende Fühlen aufzuwachen und eine wachsende Rolle im Leben zu spielen. Das Aufblitzen dieser Wesenheit – die richtige Selbst-Erkenntnis – wird in der Anthroposophie Selbstbewusstseinsseele, wenn sie Dauer hat, Geistselbst genannt.
Durch die Denk- und Vorstellungsübungen erreichen wir zwei Veränderungen. Die eine betrifft unser Innenleben: In der Erfahrung «es denkt» wird nicht nur ein Ich-bin oder Selbst erzogen, das nicht mehr mit dem Denken / Vorstellen vermischt ist, sondern das diese nicht ihm gehörende Denkkraft lenken kann. Der Zeuge nimmt sie in seine Verwaltung.
Andererseits erhalten die Themen, sofern sie einfache menschengeschaffene Nützlichkeitsdinge sind, dadurch, dass sie nicht ihrem Zweck gemäß, sondern als Übungsthemen verwendet werden, Bedeutung und Sinn. Man kann sagen, es wird ihnen eine neue Würde zugesprochen, eine neue Sakralität, indem sie das Denken des Übenden durch die Bahnen ihrer Funktion, ihrer Erfindungsidee führen und dadurch in das sinnschaffende Tun der Übung selbst assimiliert werden.
Auch das Weltbild verändert sich dramatisch mit dieser Erfahrung: Alles in der Welt wird als ein Werden , als Vorgang oder Geschehen erlebt, nichts mehr als ein statisches «ist». Das ist die Welt des Kleinkindes in einem schwer bestimmbaren Alter und auch die der archaischen Kulturen, in denen die Menschen auch alles als Geschehen erfahren haben, sei es ein Fels oder ein Berg.
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