»Sexuelle Leidenschaft tritt auch darin zutage, daß man ein subtiles, aber tiefgründiges sich selbst genügendes und selbstkritisches Bewusstsein von der eigenen Liebe zu einem anderen Menschen hat, während man sich selbst völlig darüber im Klaren ist, dass Menschen füreinander letztlich ein Geheimnis und somit getrennt voneinander bleiben, und akzeptiert, dass unerfüllte Sehnsüchte der Preis sind, wenn man sich ganz an einen geliebten Anderen bindet. Sexuelle Leidenschaft beschränkt sich nicht auf den Geschlechtsverkehr mit Orgasmus, obwohl sie sich typischer Weise darin äußert. Im Gegenteil: Sexuelle Liebe weitet sich vom intuitiven Bewußtsein, daß Geschlechtsverkehr und Orgasmus ihr befreiender, verzehrender und bestätigender letzter Zielpunkt sind, aus in die umfassende Sphäre des sexuellen Sehnens nach dem anderen, des gesteigerten erotischen Begehrens und der Wertschätzung der physischen, emotionalen und allgemeinmenschlichen Qualitäten, die der andere repräsentiert. […] In einer befriedigenden sexuellen Beziehung aber ist die sexuelle Leidenschaft eine frei verfügbare Struktur, die die Beziehung zugleich in ihren sexuellen und Objektbeziehungsaspekten wie auch in ihren ethischen und kulturellen Aspekten prägt.« (Kernberg 1995, S. 71–72)
Das Paar muss seine Leidenschaft entwickeln und schützen, sich einen abgegrenzten Raum sichern. Hierzu gehören eine »reife« postadoleszente Idealisierung, die Ambivalenzen und Konflikte erträgt, sowie die Integration von Aggression und polymorph-perverser infantiler Sexualität, wobei das Paar eine private Moral entwickeln muss, die immer in einem unaufhebbaren Widerspruch zur konventionellen (gesellschaftlichen oder Gruppen-)Moral steht. »Das heikle Gleichgewicht zwischen sexueller Freiheit, emotionaler Tiefe und einem Wertesystem, das ein reifes Funktionsniveau des Über-Ichs widerspiegelt, ist ein komplexe menschliche Leistung, die die Grundlage für eine tiefe, leidenschaftliche, konflikthafte, befriedigende und potentiell dauerhafte Beziehung schafft.« (Kernberg 1995, S. 270). »In reifen Liebesbeziehungen ist eine leidenschaftliche Liebe eine immer wiederkehrende, lustvolle Erfahrung, ein ›gut behütetes Geheimnis‹« (Hunt 1974 zitiert nach Kernberg 2014, S. 258).
4.1.8 Indikationsfragen, Rahmen und Zielsetzungen
Diagnostische Phase und Beginn der Therapie gehen in der Regel ineinander über. Zunächst ist entscheidend, einschätzen zu können, ob die Paartherapie das geeignete Verfahren ist. Dafür ist ein möglichst klares Bild der Symptomatik und Konfliktlage nötig. Erst dieses ermöglicht die Indikationsstellung.
In manchen Fällen melden sich Paare an, von denen eine oder einer eine Erkrankung hat, die (zunächst) einer anderen fachärztlichen Abklärung oder Behandlung bedarf, z. B. einen stationären Aufenthalt nötig macht. Auch muss entschieden werden, ob die Paartherapie mit anderen Behandlungsformen kombiniert werden sollte, parallel oder sequenziell ( Kap. 8.3und Kap. 8.6). Nicht selten werden Paare von Einzeltherapeuten geschickt, um die gemeinsamen Probleme im direkten Austausch klären zu können. Auch münden viele Familientherapien in Paartherapien der Eltern.
Das Formulieren einer psychodynamischen Hypothese bildet die Grundlage für einen Behandlungsfokus bzw. ein Behandlungsziel.
Die mehrgenerationale Sichtweise auf Übertragungsprozesse und Symptombildung trägt erheblich zur Hypothesenbildung bei. Oft werden Konflikte aus der frühen Eltern-Kind-Beziehung auf die Partnerschaft übertragen oder aber Konflikte der Paarbeziehung der Eltern reinszeniert. Gelingt es nicht, die eigene Loyalität, die einst der Herkunftsfamilie galt, dem Partner oder der Partnerin gegenüber zu empfinden, sorgt dies ebenfalls für »Schräglagen« in der Partnerschaft. Steht eine Familie der Partnerin oder dem Partner des eigenen Kindes skeptisch oder gar missbilligend gegenüber oder besteht eine generelle Ablehnung und/oder Entwertung der Schwiegerfamilien untereinander, möglicherweise durch sehr unterschiedliche Familienstile bedingt, so verlagern sich diese Konflikte oft in die Partnerschaft. Ebenso kann es sich verhalten, wenn die Grenzen zwischen den Generationen nicht stabil sind oder missachtet werden und sich die Herkunftsfamilien in das Paarleben oder die junge Familie stark einmischen. Häufig werden eine solche Grenzüberschreitung und Einmischung, die auch infantilisierende Züge annehmen können, nicht mit den Eltern oder Schwiegereltern geklärt, sondern die Problematik auf den Partner projiziert und dort bekämpft (Reich et al. 2007).
Die Formulierung einer Arbeitshypothese ist nicht statisch zu verstehen, sondern dynamisch: Ziele verändern sich, genau wie Hypothesen, im Verlauf der paartherapeutischen Arbeit. Wichtig ist, dass die Ziele mit dem Paar gemeinsam erarbeitet, von diesem verstanden und, zumindest bewusst, angestrebt werden. Bei der Bearbeitung von »Etappenzielen« ändert sich manchmal die Richtung, weil neue Aspekte auftreten oder die Beziehungsstruktur anders verstanden werden kann. Dies ist kein Fehler, sondern weist eher auf eine offene Haltung gegenüber Veränderungen hin. Zu Frequenz und Dauer von Behandlungen siehe Kapitel 5.2 (
Kap. 5.2).
Eine offene, auf den Prozess fokussierte Haltung erfordert in der Regel die ständige Überprüfung der Therapieziele und ggf. deren Modifikation.
4.2 Psychodynamische Familientherapie
4.2.1 Die Initialszene, erste Übertragungen und Widerstände
Die »Initialszene« gibt oft Aufschluss über wesentliche Konstellationen der Familie ( Kap. 4.1.1). Schon die Problemschilderung und Auskunftsbereitschaft bei der Anmeldung enthalten wichtige Hinweise auf Motive, Wünsche und Widerstände: Hat die anmeldende Person erkennbaren Leidensdruck? Ist dieser das Motiv für die Therapie? Wird auf Drängen Dritter hin angemeldet? Wird in der Anmeldung ein Familienmitglied als »besonderes Problem« hervorgehoben?
Die Sitzordnung gibt weitere Aufschlüsse. Es ist günstig, die Familienmitglieder ihre Plätze frei wählen zu lassen. Die Therapeuten setzen sich dann auf die »freien« Plätze: Wer sitzt nebeneinander? Lassen Familienmitglieder Plätze untereinander frei? Wer beginnt zu erzählen?
Im Gespräch mit einer vierköpfigen Familie sitzt die 14-jährige Tochter neben dem Vater, der 12-jährige Sohn neben der Mutter, beide zwischen den Eltern, wobei zwischen Tochter und Sohn eine Lücke ist. Schon vor Beginn des Gesprächs rückt der Vater mit dem Stuhl nach hinten, aus der Gruppe heraus, an die Wand, bis es nicht mehr weiter geht. Als die Therapeuten darum bitten zu beginnen, deutet die Mutter auf den Vater, der angemeldet hatte, dieser deutet auf die Mutter, senkt den Kopf und schweigt dann. Die Mutter beginnt. Währenddessen räkelt sich die Tochter lasziv in ihrem Stuhl und kämmt ihre Haare, der Sohn rückt noch näher an die Mutter und legt seine Hand auf deren Stuhllehne.
Im Gespräch werden heftige Konflikte zwischen Mutter und Tochter geschildert, bei denen der Sohn vermitteln versuche, während der Vater »neutral« bleibe, sich raushalte. Bereits bei der telefonischen Anmeldung hatte er betont, dass er das »Temperament« seiner Frau für das »eigentliche Problem« halte. Dies setzt sich szenisch im Erstgespräch fort. Im Folgenden zeigt sich eine ausgeprägte Aggressionshemmung des Vaters, der durch seine Passivität die Kämpfe »seiner beiden Frauen« noch anheizt und als »Zuschauer« identifikatorisch an ihnen teilnimmt. Zugleich zeigen sich in der Szene widersprüchliche Übertragungswünsche. Der Vater möchte in seiner Problemsicht bestätigt werden, Mutter und Tochter suchen nach einem triangulierenden Dritten, einer aktiven Vaterfigur, einer Art »weisem Familienrichter«, der die Dinge ordnen solle ( Kap. 4.3). Zudem zeigt sich der massive Widerstand dagegen, einseitige Problemsichten aufzugeben. Gleichzeitig hatte sich die Familie an die Behandler mit dem Wunsch nach gemeinsamen Gesprächen gewandt. Alle sprechen offen über ihre wenn auch kontroversen Sichtweisen und scheinen bereit, dem anderen zuzuhören. Dies lässt die Behandler eine grundsätzlich wohlwollende Haltung gegenüber allen einnehmen, gleichzeitig aber den Wunsch entstehen, die angebotene »Fixierung« auf die Mutter als »Problem« zu bearbeiten.
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