73 12 Abrechnungsmöglichkeiten
74 Literatur
75 Internetquellen
76 Sachwortverzeichnis
1 Herkunft, Ursprung und Entwicklung des Verfahrens
Die psychodynamische bzw. psychoanalytische Paar- und Familientherapie entwickelte sich aus der Psychoanalyse und der zunehmenden Verbindung psychoanalytischer Konzepte mit system- und kommunikationstheoretischen Konzepten. Die Bedeutung familiärer Beziehungen für die Entwicklung seelischer Gesundheit und Krankheit wurde in der Psychoanalyse von Anfang an thematisiert. Auch nach Aufgabe der »Verführungstheorie« und der Hinwendung zur »psychischen Realität« betonten Psychoanalytiker in der Regel die Wechselwirkung zwischen Umweltfaktoren und intrapsychischer Entwicklung. Als relevante Umwelt wurde und wird die Familie angesehen, wozu bereits früh auch mehrgenerationale Einflüsse gehörten. Zudem wurde durch die gleichzeitig oder nacheinander erfolgende psychoanalytische Behandlung von Ehepartnern das Ineinandergreifen jeweiliger neurotischer Mechanismen beider Partner deutlich. Mit der Entwicklung der Objektbeziehungstheorien wurde die Bedeutung von Umweltfaktoren und familiären Beziehungen für die psychische Entwicklung von einem Teil der hier maßgeblichen Autoren hervorgehoben (vgl. Massing et al. 2006). Die Entwicklung der Kybernetik sowie der Systemtheorie in den Naturwissenschaften fügten neue Impulse hinzu, die die Interdependenz von intrapsychischer Entwicklung, die Entstehung von Krankheitssymptomen und interpersonale Beziehungen weiter differenzierten (Massing et al. 2006). Systemtheoretische Überlegungen fanden Eingang in den interpersonellen Ansatz der Psychoanalyse von Sullivan (vgl. Beutel et al. 2020). Unter dem programmatischen Titel »Patients have families« verband Richardson bereits 1948 psychodynamische und systemtheoretische Konzepte zum Verständnis von psychosomatischen Erkrankungen. Im weiteren Verlauf wurden international z. B. durch die Arbeiten von Bowen (1960), Boszormenyi-Nagy und Mitarbeiterinnen (1965, 1981, 1986) und Framo (1965) psychoanalytische und systemtheoretische Konzepte verbunden. Im deutschen Sprachraum entwickelten Eckhard Sperling in Göttingen (Mehrgenerationenperspektive), Horst-Eberhardt Richter in Gießen (psychoanalytische Rollentheorie), Helm Stierlin in Heidelberg (Delegation, bezogene Individuation) und Thea Bauriedl in München (Beziehungsanalyse) psychoanalytische Konzepte familiendynamisch weiter, ebenso Jürg Willi in Zürich (Kollusion, Ko-Evolution) für die Paartherapie. Dabei wurden zunehmend auch Erkenntnisse aus der Kommunikationstheorie (Ruesch und Bateson 1951, 1995; Watzlawick et al. 1971) verwendet.
Im Laufe der Zeit differenzierten sich die verschiedenen familien- und paartherapeutischen »Schulen«, wobei in Deutschland die »Systemische Therapie« am weitesten verbreitet ist, die allerdings auch psychodynamisch geprägte Konzepte wie den Ansatz von Boszormenyi-Nagy und Mitarbeiterinnen, bindungstheoretische und mentalisierungsbasierte Konzepte »eingemeindet«.
Klinisch hat sich die psychoanalytische Paar- und Familientherapie entwickelt aus der Behandlung von
1. Kindern und Jugendlichen,
2. Jugendlichen mit psychosomatischen Erkrankungen, v. a. von Anorektikerinnen,
3. Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Psychosen und
4. Paaren mit neurotischen und schwereren Störungen.
Aktuell finden sich neben dem klassischen, eher konfliktorientierten mehrgenerationalen Ansatz objektbeziehungstheoretische, bindungsorientierte und mentalisierungsbasierte Ansätze in der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie (Lebow 2017). Die aktuelle psychodynamische Paar- und Familientherapie integriert Techniken und Methoden der strukturellen und der systemischen Familientherapie (Asen und Fonagy 2017a,b; Reich et al. 2007).
2 Verwandtschaft und Abgrenzung zu anderen Verfahren
Mit anderen Verfahren der Familien- und Paartherapie verbindet die psychodynamische Familien- und Paartherapie zunächst die »System-Sichtweise«. Das Handeln von Personen steht immer in einem bedeutungsgebenden interpersonellen Kontext und ist insofern interdependent, wobei sich diese Kontexte durchaus sprunghaft verändern können, z. B. durch äußere Einbrüche oder lebenszyklische Veränderungen. Psychische Symptome werden als Lösungsversuch für Konflikte, in diesem Fall interpersonelle Konflikte, angesehen. Um diese Lösungsversuche wiederum organisieren sich Interaktionen, die als »Problemsystem« bezeichnet werden können. Die wesentliche Matrix ist dabei das System der Kommunikation, wobei sich diese nicht auf die verbale Kommunikation beschränkt. Nonverbale, analoge Formen der Kommunikation, Atmosphärisches, spielen eine erhebliche Rolle.
Im Unterschied zu anderen Verfahren sind folgende Aspekte wichtig:
• Intrapsychische Prozesse werden im Unterschied zur systemischen Therapie als bedeutsam angesehen. Die Erkenntnisse der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorien sowie der Bindungs-, Mentalisierungs- und Affektforschung werden berücksichtigt.
• Ebenso werden die Erkenntnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, insbesondere der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung sowie der Forschungen zu lebenszyklischen Veränderungen berücksichtigt.
• Besonderes Gewicht wird auf die mehrgenerational tradierten familiären Prozesse gelegt.
• Historischen und sozialen Einflüssen wird auf der Ebene der Familie und auf der Ebene ökonomischer und gesellschaftspolitischer Veränderungen sowie den damit einhergehenden Traumatisierungen, Verlusten und deren Verarbeitung eine große Bedeutung beigemessen. Insofern ist psychodynamisch orientierte Familien- und Paartherapie am »Faktischen« orientiert.
• Dementsprechend werden die Ansichten des radikalen Konstruktivismus aus der systemischen Therapie nicht geteilt. »Wirklichkeiten« sind nicht beliebig konstruierbar. Ebenso sind der Veränderbarkeit von Personen und Beziehungskonstellationen durch frühere Entwicklungen und die äußeren Rahmenbedingungen (z. B. Ökonomie) Grenzen gesetzt. Die Anerkennung von Begrenzungen und die damit einhergehende Trauerarbeit spielen in manchen Fällen eine besondere Rolle.
• Unbewussten Prozessen, die auch mehrgenerational ablaufen, wird eine große Bedeutung beigemessen. Ebenso werden die psychoanalytischen Konzepte der interpersonellen Abwehr, der unbewussten Kommunikation, des Szenischen Verstehens sowie Einschätzungen der strukturellen Möglichkeiten der Beteiligten berücksichtigt.
• Übertragungs-Gegenübertragungsprozesse und die sich hieraus ergebende Beziehungsgestaltung werden analysiert und die Interventionen bzw. die Therapieplanung insgesamt auch hierauf abgestellt. In der Gegenübertragungsanalyse werden die persönlichen Einflüsse des Therapeuten und seiner Familien- und Lebensgeschichte besonders berücksichtigt.
• Die Indikationsstellung erfolgt adaptiv-prozessorientiert. In der Regel wird vom Gesamt-Beziehungssystem ausgehend mit bedeutsamen Subsystemen (z. B. Elternpaar, Geschwister, Vater-Sohn, Mutter-Tochter) gearbeitet. Familien- und Paargespräche können in diesem Rahmen durchaus mit Einzelbehandlungen kombiniert werden.
• Auch die Interventionstechnik wird adaptiv angepasst und prozessorientiert gestaltet, wobei durchaus systemische und strukturelle Behandlungstechniken einfließen.
3 Wissenschaftliche Grundlagen des Verfahrens
Neben Erkenntnissen und Konzepten der Psychoanalyse, z. B. zur interpersonellen Abwehr, zu unbewussten Prozessen und zur Tendenz, neue Beziehungserfahrungen im Lichte früherer Erfahrungen zu interpretieren und diese somit zu wiederholen (»Wiederholungszwang«, Übertragung), spielen Systemtheorie und Kommunikationstheorie eine bedeutende Rolle. Ganz wesentlich ist zudem, dass familiäre und Paarbeziehungen einen erheblichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen, aber auch zu somatischen Dysregulationen leisten. Dies gilt z. B. für depressive Störungen (Reich 2003a), Zwangsstörungen (Reich 2008; Reich 2019a; Reich 2020 in Druck), Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge Eating (Cierpka und Reich 2010; Reich 2003b,c; Reich und von Boetticher 2017a), Persönlichkeitsstörungen (Reich 2003d; Reich und von Boetticher 2017b), Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Reich und Cierpka 2011), Angststörungen, Psychosen (Reich und Klütsch 2014), Trauma-Erfahrungen (Klütsch und Reich 2012) sowie eine Vielzahl von körperlichen Regulationsstörungen und pathogenen Prozessen (Frisch et al. 2017; Reich 2020 in Druck). Die Verzahnung von physiologischen pathogenen Prozessen mit dysfunktionalen familiären Prozessen wurde auch im behavioralen Familienmodell (Wood et al. 2008, 2015; vgl. auch Reich 2020 in Druck) nachgewiesen.
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