Stefans Gesicht verformte sich zu einer Grimasse.
„Für den Saustall hätte ich noch eine, aber das war es dann auch.“
Mark betrachtete den Schiebetürenschrank und ließ eine Tür zur Seite gleiten. Offensichtlich Christine Dahlmanns Schrankhälfte, denn auf den Kleiderstangen hingen lediglich leere Kleiderbügel. Im oberen Schubfach erkannte er Bettwäsche und Handtücher. Hinter der anderen Schiebetür verbargen sich eine unzählige Anzahl an Herrenhemden, aufgehängt in Reih und Glied. Auf der Stange darunter Bundfalten- und Anzughosen, dazwischen die ein oder andere Jeans. Ein flaues Gefühl machte sich in ihm breit, als er das Schlafzimmer verließ und die Treppe hinunterstieg. Ein kiloschwerer Stein schien mit seinen Eingeweiden Tango zu tanzen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drückte er die Hand in den Magen und steuerte die Küche an. Vor dem Spülbecken blieb er stehen und atmete mehrmals tief durch, bis sich der Schmerz langsam verflüchtigte. Sein Blick fiel auf den Küchentisch, der mit Brotkrümeln übersät war. Am Ende des Tisches entdeckte er einen Stapel ungeöffneter Briefe. Er nahm die Briefumschläge unter die Lupe, bis er den Poststempel mit dem ältesten Datum ausfindig gemacht hatte. Kein Brief war mehr als sechs Tage alt. Ihm stach die zusammengelegte Tageszeitung auf der Eckbank ins Auge. Der Ausgabetag war auf den vergangenen Dienstag datiert. Mehr Zeitungen gab es nicht. Vorsichtig versuchte er, den Klebestreifen eines Briefumschlags zu lösen. Dummerweise riss das dünne Papier in der Mitte. Er fluchte lautstark.
Ihm war klar, dass Dahlmann platzen würde vor Wut, wenn er mitbekäme, dass jemand seine Post gelesen hatte. Nur hatte er keine andere Wahl.
Minuten darauf öffnete Mark bereits den sechsten Brief, nachdem die vorherigen Schreiben keine neuen Erkenntnisse gebracht hatten. Zeitgleich betrat Stefan die Küche, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und verschränkte breit grinsend die Arme. „Nun sieh dir einen unserer Vorzeigebullen an. Verschafft sich Zugang zum Haus seines Chefs und verletzt mit allen Regeln der Kunst das Briefgeheimnis.“
Mark verzog seinen Mund zu einem Lächeln, doch erstarb es in der Aufwärtsbewegung, als er den Namen des Absenders las, der unter dem Sichtfenster hervorlugte. Rechtsanwalt Dr. Harald Voigt. Er pfiff durch die Zähne und wollte gerade das Kuvert aufreißen, als er innehielt. Nachdenklich betrachtete er den Briefkopf und malte sich Dahlmanns cholerischen Anfall vor seinem geistigen Auge aus. Sein Chef würde ihn um einen Kopf kürzer machen, egal wie viele Briefe er las. Neugierig öffnete er den Umschlag und begann zu lesen.
Das Schreiben des Anwalts erfolgte im Auftrag der Mandantin und bestätigte in wenigen Worten, was er bereits geahnt hatte. Er entnahm dem Brief einige persönliche Informationen. Hauptanliegen war aber Christine Dahlmanns Wunsch nach Scheidung, und das lieber heute als morgen.
Sie sahen sich weiter im Haus um, fanden aber nichts, was sie weitergebracht hätte, und traten eine Viertelstunde darauf an die frische Luft. Eisiger Wind schlug ihnen entgegen. Mark wollte gerade die Haustür hinter sich zuziehen, als plötzlich das Läuten eines Telefons an sein Ohr drang. Verwundert hielt er inne und lauschte. Erneut vernahm er ein Klingeln und stürzte zurück ins Haus. Er eilte den Flur entlang, während das Telefonläuten lauter wurde, riss die Wohnzimmertür auf und hastete zum Beistelltisch. Eilig nahm er das schnurlose Telefon aus der Ladestation.
„Hallo?“
Stille.
„Hallo, wer ist denn da?“
Er vernahm ein leises Atmen, dann klickte es in der Leitung.
Gegen dreiundzwanzig Uhr verließen Helena Moor und Daria Warnke den Filmpalast. Helena gähnte, während sie auf ihr Smartphone blickte, und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch. Die zwei Frauen schlenderten durch das Belgische Viertel und unterhielten sich über die gruseligsten Szenen des Films, bis sie die Geschäfte der Maastricher Straße hinter sich gelassen hatten. Am Brüsseler Platz blieben sie stehen.
„Sollen wir noch irgendwo was Trinken gehen?“, fragte Helena und gähnte hinter vorgehaltener Hand.
„So müde, wie du bist, gehörst du nur noch ins Bett. Soll ich dich noch ein Stück begleiten?“
Helena winkte ab. „Die paar Meter schaffe ich auch allein.“
„Na schön, aber lass dich nicht wegklauen. Ich bin dann morgen gegen halb acht bei dir.“
Die Freundinnen umarmten sich zum Abschied. Danach trennten sich ihre Wege. Lange sah Helena ihrer Freundin hinterher, bis sie die Straße überquerte und hinter einer Hausecke verschwand. Gedankenversunken schaute sie zu den Kirchtürmen, die in den Nachthimmel ragten. Auf einer Bank vor einer verwilderten Steinmauer saßen Obdachlose. Einer von ihnen trank einen Schluck aus einem Flachmann und ließ ihn danach in einer Plastiktüte verschwinden. Aus dem Restaurant Bali kamen gerade zwei Männer, die Händchen haltend in Richtung Hohenzollernring schlenderten. Helena trat den Heimweg an und passierte den Brüsseler Platz, als sie eine Männerstimme rufen hörte. Verwundert drehte sie sich um.
„Ich glaube, das hast du gerade verloren.“ Ein Mann um die dreißig kam lächelnd auf sie zu und drückte ihr ein Amulett in die Hand. Sie warf einen kurzen Blick darauf und gab es ihm zurück. „Das ist nicht meins.“
„Nicht? Aber es fiel hinter euch auf den Boden“, erklärte er und machte dabei einen verwunderten Gesichtsausdruck.
Sie zuckte mit den Schultern. „Meins ist es auf jeden Fall nicht.“
„Vielleicht gehört es ja deiner Freundin?“
Helena betrachtete die Kette nun etwas genauer. Sie hatte einen goldenen Anhänger mit Verzierungen an der Außenkante, auf dem eine Frau mit langen, gelockten Haaren zu sehen war.
„Wohl kaum“, erwiderte sie mit gerümpfter Nase.
Nachdenklich beäugte er das Schmuckstück und lächelte danach offensichtlich amüsiert. „Einen so schlechten Geschmack hätte ich euch auch nicht zugetraut.“
Sie musterte den Mann mit dem Grübchen auf der Wange und den ebenmäßigen Gesichtszügen. Offen gestanden gefiel er ihr. Das musste sie wohl oder übel zugeben, auch wenn sie sich nach der Trennung von Felix geschworen hatte, vorerst die Finger von Männern zu lassen, doch bei diesem Traum von einem Mann machte sie gerne eine Ausnahme, ansonsten würde sie es ihr Leben lang bereuen. Sie strahlte ihn an und fing an zu lachen.
„Wie heißt du?“
„Helena. Und du?“
„Die schöne Helena. Das hätte ich mir denken können.“
Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Hast du es weit bis nach Hause? Ich könnte dich noch ein Stück begleiten.“
„Ich wohne da vorn.“
Sie deutete zu dem Haus, auf dessen Fassade ein gemaltes Gebüsch zu erkennen war. Für einen kurzen Moment machte es den Anschein, als wenn sich eine gewisse Enttäuschung in seinem Gesicht abzeichnete.
„Dann leiste ich dir keine sonderlich lange Gesellschaft. Aber lieber kurz, als gar nicht.“
„Wir müssen schon ein paar Meter gehen.“
Sie setzten sich in Bewegung, ließen die Brüsseler Straße hinter sich und bogen in die Neue Maastrichter Straße ein. Helena hörte seinen schweren Atem und wunderte sich, denn der Boden war ebenerdig und weit von einer Steigung entfernt.
„Ist alles in Ordnung?“
„Ich bin nur etwas nervös.“
„Wegen mir?“
„Vielleicht“, erwiderte er lächelnd.
Sie fühlte eine aufsteigende Wärme in ihren Wangen und richtete ihren Blick zu Boden. Schweigend schlenderten sie nebeneinander her, bis sie das Mehrfamilienhaus erreichten, in dem sie mit ihren Eltern in einer Mietwohnung lebte. Vor der Hofeinfahrt blieb sie stehen.
„Wir sind da.“
Sein Blick schweifte über den Hof und blieb an einem hochgewachsenen Mann hängen, der gerade eine Sporttasche aus dem Kofferraum seines Wagens holte.
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