„Also endet dein Name mit einem A.“
„Keine Ahnung, weiß nicht.“ Die Kleine verzog ihren Mund und zuckte mit den Schultern.
„Sie heißt Lisa“, lüftete die Mutter das Geheimnis.
„Lisa. Kaum ein anderer Name hätte besser zu dir gepasst. Sag mal Lisa, ist die Oma auch da?“, hakte er nach.
„Herr Birkholz, was soll das? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht hier ist.“
Lisa sah ihre Mutter mit weit aufgerissenen Augen an und schlang ihre dünnen Ärmchen noch fester um ihren Oberschenkel.
„Lass gut sein, Natalie“, vernahm Mark aus der Wohnung eine Frauenstimme. Kurz darauf erschien eine kleine, rundliche Frau an der Wohnungstür, die er eindeutig als Christine Dahlmann identifizierte. Erschöpft und blass sah sie aus, wenn auch durchaus wohl genährt. Eilig richtete er sich auf und reichte ihr die Hand.
„Wir stören Sie nur ungern, aber wir müssen dringend mit Ihnen sprechen. Ihr Mann ist seit zwei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen, und wir machen uns natürlich Sorgen.“
„Sorgen?“, erwiderte sie nachdenklich.
Erst jetzt bemerkte er die Tränen in ihren Augen. Zu seiner Schande wurde er unsicher, und für einen Moment herrschte betretenes Schweigen.
Zum Glück ergriff Maja das Wort. „Ihr Haus wirkt unbewohnt. Wohnen Sie denn noch dort?“
Die Gesichter von Mutter und Tochter wirkten mit einem Mal wie versteinert.
Maja räusperte sich, nachdem die Frauen keinerlei Anstalten machten, ihr zu antworten. „Sein Dienstwagen ist ebenfalls spurlos verschwunden. Außerdem haben wir bei allen in Frage kommenden Krankenhäusern nachgefragt, doch dort wusste niemand etwas. Die ganze Situation ist mehr als sonderbar.“
Christine Dahlmann nickte. „Ich glaube, da gibt es noch mehr Dinge, über die sie sich wundern werden. Aber kommen Sie erst mal herein.“
In der Ecke des modernen Wohnzimmers stand eine Eckcouch mit dunkelgrauem Veloursbezug, davor ein Glastisch mit verchromtem Metallgestell. Maja und Mark hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht und sahen Lisa dabei zu, wie sie ein Miniaturtablett mit gestapelten Kaffeetassen ins Wohnzimmer jonglierte. Gefolgt von ihrer Mutter, die mit ausgestreckten Armen hinter ihr herging. Letztendlich glückte der Gefahrentransport und Natalie Heidkamp atmete erleichtert auf, als Lisa das Tablett auf dem Glastisch abstellte. Danach verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck, als sie ihre Mutter ansah, die wie ein Häufchen Elend im Sessel kauerte und in ein Taschentuch schnäuzte. Hilflos zuckte sie mit den Schultern und warf Mark einen resignierten Blick zu. „So geht das schon die ganze Zeit.“
Er nickte kurz. „Lebt Ihre Mutter jetzt bei Ihnen?“ Kaum hatte er seine Frage ausgesprochen, da verwandelte sich Christine Dahlmanns Lethargie in einen ausgekochten Gefühlsausbruch.
„Das ist wieder typisch für ihn. Der lebt sein Leben so weiter, als wenn nichts passiert wäre. Wo andere Menschen ein Herz haben, hat der nur einen Klumpen Granit.“
„Mama. Jetzt mach mal halblang“, fiel die Tochter ihr ins Wort.
„Ist doch wahr. Oder willst du mir erzählen, dass sich ein normaler Mensch so verhält? Aber wahrscheinlich bin ich ihm einfach egal“, lamentierte Christine Dahlmann.
Ihr Gesicht glich mittlerweile einem zerlaufenen Bild aus Wasserfarben. Die Wimperntusche und der Lidschatten rannen über ihre Wangen, während Lippenstift an ihrer Nasenspitze klebte.
Mitleidig schaute Natalie Heidkamp ihre Mutter an und streichelte ihr tröstend über den Arm.
„Ist doch wahr. Ich habe die Nase voll von diesem Schuft“, schimpfte sie mit tränenerstickter Stimme.
„Wieso?“, entfuhr es Mark.
Ungläubig sah Christine Dahlmann ihn an. Erst da begriff er, wie unpassend und deplatziert seine Frage war. Die Quittung für seine unüberlegte Offensive folgte postwendend.
„Meinen Sie nicht, dass Sie jetzt etwas zu weit gehen, Herr Birkholz? Oder wollen Sie ernsthaft mit mir über unsere Eheprobleme diskutieren? Machen Sie das gefälligst mit Ihrem emotionalen Krüppel von Chef.“
„Mama. Lass gut sein!“, wies Natalie Heidkamp sie zurecht.
„Wissen Sie denn, wo er sich aufhalten könnte?“, schaltete sich nun Maja ins Gespräch ein.
„Woher soll ich das wissen? Vielleicht spendiert er seinem Betthäschen wieder eine Weltreise.“
Mark räusperte sich und hakte nach: „Was macht Sie eigentlich so sicher, dass Ihrem Mann nichts zugestoßen ist?“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an, während ihre Augen hektisch von einem zum anderen wanderten. „Halten Sie das wirklich für möglich? … Wenn ihm tatsächlich etwas passiert ist … dann bin ich schuld“, stammelte sie und fing am ganzen Körper an zu zittern.
„Na wunderbar. Das hast du großartig hinbekommen“, raunte Maja und eilte zu einer aufgelösten Christine Dahlmann, die ihre Gliedmaßen nicht mehr unter Kontrolle zu haben schien. Panisch fuchtelte sie mit ihren Händen, schnappte nach Luft und griff sich an den Hals. Auch Natalie Heidkamp stürzte zu ihrer Mutter und versuchte, sie zu beruhigen.
„Papa geht es bestimmt gut, Mama. Hörst du? Mammmma …“
Schweigend sah Mark dabei zu, wie Natalie Heidkamp die Beine ihrer Mutter auf die Couchlehne legte und ihr über das Gesicht streichelte. Er fühlte sich wie bestellt und nicht abgeholt. Zu seiner Verwunderung brachte Dahlmanns Tochter sogar Verständnis für ihn auf. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah sie ihn an. „Es ist nicht Ihre Schuld, Herr Birkholz. Meine Mutter kollabiert in letzter Zeit öfters. Die Trennung von meinem Vater setzt ihr wahrscheinlich mehr zu, als sie sich selbst eingestehen möchte.“
Er betrachtete die Frau, die seit wenigen Minuten auf dem Sofa lag und zu schlafen schien.
„Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.“
Mark nickte zwar, doch hatte er nicht im Geringsten vor zu gehen, zumal er das Gefühl nicht loswurde, dass die Tochter ihm etwas verheimlichte. Allein deshalb würde er bleiben. So lange, bis er herausgefunden hatte, was genau sie ihnen verschwieg. Nachdenklich musterte er Natalie Heidkamp. Danach wanderte sein Blick zu Christine Dahlmann. Er traute seiner Wahrnehmung kaum, als er sah, wie sie in Windeseile ihre Augen wieder schloss. Eine gewisse Ungläubigkeit rührte sich in ihm, und er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf einen Beistelltisch und schielte unauffällig zur Mutter, die jetzt langsam die Augen wieder öffnete.
„Und Sie wissen nicht, was zwischen Ihren Eltern vorgefallen ist?“
Natalie Heidkamp wirkte nervös. Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere, bedachte ihre Mutter mit einem flüchtigen Blick, ehe sie sich Mark bis auf wenige Zentimeter näherte. „Ich habe ihr versprochen, nichts zu sagen. Selbst mein Mann weiß nichts davon“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er nickte mit verständnisvoller Miene. Die Tochter schien zu überlegen und fügte dann hinzu: „Vor ein paar Monaten hat meine Mutter etwas erfahren, was ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Sie hat es die ganze Zeit für sich behalten, bis sie es mir schließlich vor ein paar Wochen anvertraut hat.“
„Von was genau reden Sie?“, wollte Mark wissen.
Die Tochter zog ihn in den Flur und schaute um die Ecke. „Damit das klar ist: Alles, was ich Ihnen jetzt erzähle, wissen Sie nicht von mir. Nur für den Fall, dass meine Mutter fragt.“
Er deutete ein Kopfnicken an.
„Vor über dreißig Jahren hatte mein Vater eine Affäre. Und die muss wohl nicht so glimpflich abgelaufen sein wie die anderen, die danach kamen“, rückte sie mit der Sprache raus.
Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck sah er sie an. „Ihr Vater hat ein uneheliches Kind?“
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