Julie holte sich einen Becher Tee und dachte an die Scheidung ihrer Eltern, an die bösen Worte, die zwischen ihnen gefallen waren. Obwohl sie damals im College und kaum zu Hause gewesen war, hatte sie ihre Streitereien und, was noch viel schlimmer war, ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem anderen mitbekommen. Ihrem Vater war es beinahe egal gewesen, dass seine Frau mit einem anderen Mann nach Kalifornien gezogen war. Er war ohnehin die meiste Zeit im Krankenhaus. Jetzt hatte er eine Haushälterin, die ihm seine teure Wohnung putzte, und hielt sich nicht einmal eine Geliebte, weil er gar keine Zeit für sie hätte. Ihm gingen seine Karriere und sein Erfolg über alles.
»Julie«, erklang eine leise Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und erkannte Josh, einen Teebecher in den Händen. »Julie! Ich muss dir was sagen.«
»Nicht jetzt, Josh«, wich sie ihm aus.
»Aber es ist wichtig!«
»Ich muss mich um meinen Job kümmern«, erwiderte sie ungehalten. Der Gedanke an die Scheidung ihrer Eltern hatte sie missmutig gestimmt. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich hier nicht auf einem Privatausflug bin. Ich kann mich nicht ständig um dich kümmern.«
»Eine Minute!«
»Okay, eine Minute.« Sie trat etwas zur Seite, damit die anderen sie nicht hören konnten, und trank ungeduldig von ihrem Tee. »Aber nicht länger …«
Er wirkte wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte, und sie kam sich beinahe schon schuldig vor, weil sie so streng und kleinlich zu ihm war. Sie bemühte sich, ihm nicht in die Augen zu sehen. Mit seinem Samtblick hatte er bestimmt schon mehr Mädchen rumgekriegt, und sie wollte sich auf keinen Fall mit ihm einlassen, und wenn er noch so verführerisch aussah.
Er sprach so leise, dass nur sie ihn hören konnte. »Das Mädchen … die junge Frau, die du an der Tankstelle gesehen hast … sie ist meine Schwester.«
»Ja, klar. Fällt dir nichts Besseres ein?«
»Sie ist meine Schwester, Julie … ehrlich!«
Sie hielt sich mit beiden Händen an ihrem Becher fest. »Du bist mir keine Rechenschaft schuldig, Josh. Wir hatten noch nicht mal ein Date. Du kannst mit so vielen Mädchen oder jungen Frauen ausgehen, wie du willst.«
»Ich will aber mit dir ausgehen. Seitdem ich dich getroffen habe, habe ich gar keine Lust mehr, mich mit anderen Mädchen zu treffen.« Er kramte seinen Geldbeutel aus der Anoraktasche und zog ein Foto heraus. »Hier … das ist Susan … so heißt meine Schwester … das ist Susan mit ihrem Mann. Erkennst du sie wieder?«
Julie betrachtete das Foto und erkannte die junge Frau von der Tankstelle, nur dass sie diesmal ein Brautkleid trug und der Mann neben ihr einen dunklen Anzug mit einem Blumensträußchen am Revers. Es gab keinen Zweifel.
»Sie war auf einem Jahrgangstreffen ihres College. Ihr Mann ist auf Geschäftsreise in Kalifornien. Auf dem Rückweg hatte sie eine Autopanne, und da sie sich den teuren Abschleppdienst ersparen wollte, rief sie mich an.« Er versuchte ein Lächeln, das ihm nicht ganz gelang. »Susan ist ein Geizhals.«
Sie reichte ihm das Foto zurück, wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. »Tut mir leid«, brachte sie schließlich mühsam hervor. »Da lag ich wohl ziemlich daneben.« Sie wagte nicht, ihm in die Augen zu blicken, diesmal aus Scham und Verlegenheit. »Und ich dachte, du wärst so ein … ein Womanizer.«
»Na ja …« Er grinste. »Früher …«
»Es tut mir leid, Josh. Okay?«
»Schon gut. Aber …«
»Wann geht’s eigentlich weiter?«, übertönte Gary Clarke das allgemeine Gemurmel mit seiner zu lauten Stimme, in der fast immer ein spöttischer Unterton mitschwang. »Oder wollen wir hier festfrieren? Ich dachte, wir sind auf einer Wanderung.« Er blickte Carol an. »Oder sind Sie schon müde, Ranger?«
Carol ließ sich nicht provozieren. »Ich bin hellwach, Gary. Und keine Angst, Sie kommen heute noch auf Ihre Kosten. Auf den nächsten Meilen geht es ständig bergauf und bergab, dafür brauchen wir eine Menge Kraft, und die haben wir nur, wenn wir ausgeruht an die Sache herangehen. Mike und Ruth machen es richtig, die essen was Kleines, bevor wir weiterlaufen.«
»Einen Schokoriegel?« Gary lachte.
»Einen Kraftriegel«, verbesserte ihn Mike, »ohne Zucker und Schokolade. Wenn wir den gegessen haben, brauchen wir den ganzen Tag nichts anderes.« Er kramte einen Riegel aus seinem Backpack. »Auch einen? Aus unserem Sportgeschäft. Bei einem Einkauf über fünfzig Dollar gibt’s so was umsonst.«
»Wir sind bestens ausgerüstet.«
»Ein Geschenk des Hauses.«
Gary schüttelte lachend den Kopf und packte ein Sandwich aus. Die eine Hälfte gab er seinem Bruder. »Wir essen lieber was Anständiges. Wenn wir auf den Denali klettern würden, wär’s was anderes, aber diesen Seniorentrip schaffen wir auch mit vollem Magen.« Er biss herzhaft in sein Sandwich und grinste seinen Bruder an, zwei ungezogene Jungen, die alle herausfordern wollten.
»Ein voller Bauch, der läuft nicht gern«, sagte Mike.
»Und fällt öfter mal auf die Nase«, fügte seine Frau hinzu.
»Wir sind in Topform«, widersprach Gary kauend, »vor einigen Wochen, bei den Meisterschaften in der Sierra Nevada, hätte ich auch mit dem Bauch voll Schokolade gewonnen, so groß war mein Vorsprung. Und Chris …« Er blickte seinen Bruder an. »… ist immerhin Dritter geworden.« Er trank einen Schluck und grinste schon wieder. »Und Sie? Stehen die ganze Woche in Ihrem Sportgeschäft und tummeln sich am Sonntag mit Touristen auf der Skipiste?«
Mike blieb gelassen. »Ruth war kalifornische Meisterin im Abfahrtslauf und wäre bei den Olympischen Spielen dabei gewesen, wenn sie sich nicht den Fuß gebrochen hätte. Ich bin sicher, ihr würden Sie nicht mal auf dem Snowboard davonfahren. Und ich war Dritter – bei den US-Meisterschaften.«
Darauf wusste Gary gar nichts mehr zu sagen. Er wandte sich ab und biss so wütend in sein Sandwich, dass ihm beinahe die Hälfte zu Boden fiel. Julie und Carol unterdrückten nur mühsam ein Lachen, genauso wie Mike und Ruth Linaker. Sie gehörten nicht zu den Sportlern, die ständig mit ihren Erfolgen angaben, aber die Steilvorlage der Brüder war zu verlockend gewesen.
Nur Scott Jacobsen interessierte der amüsante Wortwechsel nicht. Er stand etwas abseits, trank langsam von seinem Tee und ging seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Als würde er vom Mount McKinley auf magische Weise angezogen, starrte er auf den Berg, dessen Gipfel bereits wieder hinter einigen Wolken verschwunden war. Seltsamer Vogel, dachte Julie. Für einen Mann aus Chicago hatte er sich jedoch besser gehalten, als sie befürchtet hatte. Er stand sogar relativ sicher auf seinen Schneeschuhen und hielt sich streng an die Anweisungen der Rangerin. Anscheinend hatte er lange geübt.
Sie fing einen Blick von Carol auf und ging zu ihm. Offenbar befürchtete die Rangerin, er könnte Angst haben und die Wanderung ebenso gefährden wie Kati Wilcott. In den Bergen wäre es zu spät zum Umkehren, und einen Hubschrauber rief man nur, wenn Lebensgefahr bestand oder ein Teilnehmer spurlos verschwunden war. »Ich frage mich immer noch, was jemand aus Chicago dazu bewegt, auf Schneeschuhen in die Wildnis zu wandern«, unterbrach Julie seine Gedanken. »Nur wegen der Bücher Ihres Vaters?«
Jacobsen lächelte flüchtig, wurde aber gleich wieder ernst. »Mein Vater war ein begeisterter Bergsteiger, und wenn er mir abends eine Geschichte erzählte, dann handelte sie meist von Alaska. Ich wusste schon vom Mount McKinley, bevor ich vom Mount Everest oder Nanga Parbat hörte. Schon damals entschloss ich mich, mir den Berg aus der Nähe anzusehen, aber irgendwie kam es nie dazu. Das College, die Karriere … ich arbeite in einer großen Werbeagentur. Erst als ich …« Er hielt mitten im Satz inne, als hätte er Angst, ein Geheimnis zu verraten. »Erst jetzt hat es geklappt. Der Berg … der Mount McKinley …« Er wirkte plötzlich unsicher. »… dieser Berg … er wirkt so unnahbar … man könnte Angst vor ihm bekommen … ich möchte nicht wissen, wie viel Leid einige Menschen an diesen eisigen Wänden erfahren mussten.«
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