Wer leitete die Geschicke dieser Welt und ließ zwei Menschen, die sich gar nicht kannten, in einem italienischen Lebensmittelladen unverhofft zusammenstoßen? Gab es Zufälle im Leben?
Oder sollte so etwas wie Schicksal tatsächlich existieren?
Und vor allen Dingen: Wer gab einem Menschen solche Augen, wie Matteo sie hatte?
„So, nun aber genug in Erinnerungen geschwelgt. Lass uns den Tag genießen. Ich habe noch den ein oder anderen Ort für dich, den ich dir zeigen möchte, und die, das verspreche ich, werden weniger tragische Ereignisse zutage fördern. Also komm, liebe Petra, ich habe Hunger und möchte dich mit der besten Köchin der Welt bekannt machen.“
Petra und Matteo stiegen wieder in den roten Alfa und die Fahrt ging noch einige Kilometer weiter den Hügel bergan. Hin und wieder führte eine kleine, steile Bergstraße in umliegende Ortschaften, doch großartig bewohnt schien diese Seite am Comer See nicht zu sein.
Etwa zehn Minuten später hielt Matteo vor einem unscheinbaren Steinhaus mit einer kleinen Terrasse an.
„Herzlich willkommen am Passo della Colma, der besten Küche weit und breit!“ Als Petra ihren Fahrer ein wenig zweifelnd von der Seite ansah, grinste er frech. „Glaubst du mir etwa nicht? Na, dann sieh dich vor Nonna Peppina vor! Wenn ich ihr erzähle, was du denkst, kommst du aus ihrer Küche nicht mehr raus!“
Wenig später saßen die beiden Ausflügler an einem reichlich gedeckten Tisch auf der schattigen Terrasse des beliebten Ausflugslokals auf der Passhöhe, die offensichtlich gerade auf Radfahrer eine gewisse Anziehungskraft ausübte, denn neben Matteo und Petra tummelten sich hier in der Mittagszeit vor allen Dingen sportlich aussehende Radler, die ihren Popos und Beinen eine Ruhepause gönnen wollten.
Und Matteo hatte tatsächlich nicht zu viel versprochen. Das Essen aus der Küche von Nonna Peppina war köstlich. Einfache, aber typisch regionale Köstlichkeiten hatte die betagte Köchin, die noch immer gerne selbst am Herd stand, aufgetischt.
Natürlich war Nonna Peppina nicht wirklich Matteos Großmutter, wie sich bald herausstellte. Doch irgendwie waren auch diese beiden um viele Ecken miteinander verwandt. Matteos Großmutter war die Nichte von Nonna Peppinas Mutter ... oder so ähnlich.
„Du scheinst ja mit jedem hier am See irgendwie verwandt und verschwägert zu sein“, meinte Petra, nachdem Nonna Peppina und Matteo sie über ihre Familienverhältnisse aufgeklärt hatten.
„Nicht mit jedem“, erwiderte Matteo, „aber mit sehr vielen. Die Familie Bianchi, das ist mein Nachname, hat über Generationen hinweg immer viele Kinder gehabt. Und da bleibt es nicht aus, dass man irgendwie mit jedem und jeder hier unten am Südwestzipfel des Sees verwandt ist.“
„Wie kommt es dann, dass du so gut Deutsch sprichst?“ Darüber hatte sich Petra schon seit dem Moment ihrer ersten Begegnung gewundert.
„Nun, das ist ganz einfach erklärt“, offenbarte Matteo, „es gab da mal eine junge deutsche Studentin, die an der Hochschule einen jungen italienischen Studenten kennenlernte, sich in ihn verliebte und mit ihm an den wunderschönen Comer See zog. Kurzum, meine Mutter ist gebürtige Heidelbergerin, hat meinen Vater, der Tiermedizin studiert hat, an der Uni kennengelernt und ist nach Studienabschluss – und mit mir unter dem Herzen – nach Griante gezogen. Das ist keine spektakuläre Geschichte, aber eine schöne.“
Matteo strahlte über das ganze Gesicht, als er von seinen Eltern erzählte. Offensichtlich hatte die Familie eine enge Bindung, denn Matteo hatte ja zuvor schon an der Grotte sehr liebevoll von seiner Mutter gesprochen, sodass es Petra fast schade fand, diese Frau noch nicht kennengelernt zu haben. Aber wie sollte das auch gegangen sein, rief sie sich ins Gedächtnis, sie kannte Matteo ja noch nicht einmal 24 Stunden.
„Ich habe jetzt schon so viel von mir erzählt“, flocht Matteo nun ein. „Magst du mir auch ein wenig aus deinem Leben berichten?“
Eigentlich tat Petra dies nicht wirklich gerne, denn die Trennung von Frank war für sie tatsächlich sehr schmerzlich gewesen. Und selbst ihre beste Freundin hatte sie bis dato nicht in ihr Herz blicken lassen. Denn die war frisch verheiratet und Petra hatte in den letzten Wochen öfter einmal den Eindruck gehabt, dass Lisa momentan in ihrem eigenen Glück der Zweisamkeit das Unglück Petras nur schwer verkraften konnte.
Hier unter italienischer Sonne aber fiel es Petra plötzlich gar nicht mehr schwer, über sich und Frank, über ihre Einsamkeit und ihr Verlassenwerden zu erzählen. Es war, als würde sie mit einem Menschen hier sitzen, den sie seit Jahren kannte. Hinzu kam natürlich, dass Matteo bereits so viel von sich und seinem Leben preisgegeben hatte, dass Petra es unfair gefunden hätte, nicht auch mit offenen Karten zu spielen.
Und so berichtete sie ihrem Gegenüber von einer großen Liebe, die jäh zu Ende gegangen war. Von dem Schmerz der verlassenen Frau, die sie war. Von Ängsten, nie wieder eine Liebe zu finden, die sich immer wieder in ihre Gedanken schlichen. Von der beruflichen Perspektivlosigkeit und einem Neuanfang, den sie sich so sehr erhoffte.
Als Petra ihre Lebensbeichte beendet hatte, waren mehr als zwei Stunden vergangen. Matteo hatte sie erzählen lassen, hatte hin und wieder einmal eine Zwischenfrage gestellt und ihr aufmerksam zugehört.
Nun sagte er: „Petra, dieser Frank muss blind, taub und dumm sein, eine Frau wie dich gehen zu lassen. Wärst du meine Frau, so würde ich dich auf Händen tragen bis an dein Lebensende. Dein Wohlergehen wäre meines, und nur wenn du glücklich wärst, könnte auch ich es sein.“ Er sah ihr lange tief in die Augen und nahm ihre Hand. „Petra, wir kennen uns noch nicht wirklich lange. Aber schon beim ersten Blick in deine wunderschönen grünen Augen unten bei Petrella im Laden habe ich gespürt, dass es zwischen uns eine besondere Verbindung gibt. Und ich spüre jetzt, in diesem Moment, dass du ähnlich empfindest. Ich kann und will hier nicht von Liebe sprechen, denn zur Liebe gehört mehr als diese flüchtigen Augenblicke, die wir bislang miteinander haben durften. Aber ich denke, wir dürfen gespannt auf das sein, was auf uns zukommen wird. Denn, und auch das spüre ich ganz deutlich: Wenn ich dich heute Abend nach Hause gebracht habe, wird dies kein Abschied, sondern ein Anfang sein.“
Petras Nackenhaare hatten sich aufgestellt, so tief waren ihr Matteos Worte unter die Haut gegangen. So tief hatten sie seine Sätze berührt. Ja, sie wusste es längst, hatte es in den vergangenen Minuten und Stunden dieses so besonderen Tages gespürt: Ihr und Matteos Schicksal waren irgendwie miteinander verwoben.
Gab es Liebe auf den ersten Blick?
War das hier Liebe auf den ersten Blick?
Petra wusste es nicht – und wollte es auch noch gar nicht wissen. Die Zeit würde alle Fragen klären, jetzt galt es, den Augenblick zu genießen. Und das tat Petra in vollen Zügen.
Als sich Matteo am späten Nachmittag von ihr vor dem Hotel in Griante verabschiedete, hauchte sie ihm einen leichten Kuss auf seine Wange. Er hatte versprochen, sie am nächsten Morgen wieder abzuholen und ihr weitere Sehnsuchtsorte am Comer See zu zeigen. Leider, so hatte er beim Abschied gesagt, müsse er an diesem Abend noch ein wenig arbeiten, sonst hätte er sie gerne in ein schönes Restaurant ausgeführt. Das aber würde er gerne zu einem späteren Zeitpunkt nachholen. Und er hatte ihr vielsagend zugezwinkert und gesagt: „Dann entführe ich dich und zeige dir ein Lokal, das du so sicherlich nie betreten würdest. Lass dich überraschen.“
„Das tue ich gerne“, antwortete Petra. „Und ich freue mich darauf.“
***
Die nächsten drei Tage verbrachten Matteo und Petra zusammen. Matteo, der wie sein Vater Tierarzt war, konnte sich dank dessen Unterstützung für ein paar Tage aus dem Praxisalltag befreien. Sein Vater war froh, dass der Sohn nach dem tragischen Tod der Schwiegertochter offensichtlich wieder eine junge Frau getroffen hatte, die dabei war, sein Herz zu erobern. Und auch Giulia, Matteos Tochter, vermisste den Vater in diesen Tagen nicht, denn die Kleine war mit ihrer Großmutter für zwei Wochen ans Meer gefahren. Dort an der italienischen Riviera hatte die Familie Bianchi ein kleines Ferienhaus, das gerade um diese Jahreszeit, wenn die Temperaturen noch nicht zu hoch und die Touristenzahlen gering waren, Erholung pur versprach. Matteos Mutter Ute und Giulia würden erst am Ende der Woche wiederkommen, hatte Matteo Petra berichtet.
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