DER CHRIST-CLAN
Anne Gold
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Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
eISBN 978-3-7245-2376-5
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2321-5
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird
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Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung . Heraklit
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
Bedächtig senkte sich der Sarg in das Grab. Es war totenstill, niemand sprach ein Wort. Obwohl Markus Christ während des Trauergottesdienstes am vergangenen Samstag im Basler Münster ausdrücklich betont hatte, dass die Beisetzung seiner geliebten Frau nur im Kreise der engsten Familie stattfinden sollte, liessen es sich Freunde, Geschäftspartner und Politiker nicht nehmen, Anna Christ auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Mit roten Rosen oder einer Handvoll Erde nahmen die Trauergäste auf dem Hörnli Abschied, ein jeder mit seinen persönlichen Gedanken an die viel zu früh Verstorbene. Nach über einer Stunde lichtete sich die Menge. Kopfschüttelnd stand Markus Christ mit seinem Vater vor dem mit Blumen übersäten Grab. Wie konntest du nur, Anna? Eine tiefe Trauer und eine unsägliche Wut zerreissen mich fast. Du hast mich oft mit deinen Ansichten halb in den Wahnsinn getrieben, aber das hier, das treibt mich in den Abgrund. Wie soll es weitergehen ohne dich?
«Es ist nicht gut, wenn die Kinder vor ihren Eltern gehen müssen», wandte sich Ernst Christ an seinen Sohn.
Markus nickte zustimmend. Er wusste, was jetzt kam.
«Gar nicht gut. Sie war zwar deine Frau, doch für mich wie die eigene Tochter, die uns vergönnt blieb.»
«Ein sinnloser Tod.»
«Es ist auch nicht gut, wenn unsere Frauen vor uns gehen. Irene sagte immer, wenn du mich überlebst, muss ich mir da oben Sorgen machen, ob du allein zurechtkommst.»
«Warum hat sie nicht mit mir geredet? Oder mit Tina?»
«Weil sie euch nicht belasten wollte.»
«Nicht belasten? Das ist purer Hohn. Belastet uns ihr Tod nicht tausendmal mehr, als es das Wissen um ihre Krankheit getan hätte? Jetzt haben wir keine Wahl mehr. Wir müssen ohne Anna leben, irgendwie, mit dem schier unerträglichen Gedanken, dass sie bei rechtzeitiger Hilfe vielleicht noch leben könnte.»
«Möglicherweise unterschätzte sie ihre Krankheit, glaubte, die Schwindelanfälle würden wieder aufhören.»
«Dass sie ihren Tumor vor mir verheimlichte, kann ich noch verstehen. Aber Tina ist Ärztin. Wenn sie unsere Tochter im Anfangsstadium mit ihren Sehstörungen und ihren Schwindelanfällen konsultiert hätte, würden wir nicht hier stehen. Da bin ich ganz sicher.»
Markus nahm von seiner Assistentin Nicole einen Strauss Rosen entgegen und legte ihn sanft aufs Grab. Ruhe in Frieden. Du bist und bleibst meine grosse Liebe … nur, das verzeihe ich dir nie. Mit Tränen in den Augen wandte er sich ab.
«Sie ist einfach gegangen, Vater. Ohne Vorwarnung.»
«Ja, ich weiss. Es ist grausam. Vielleicht wusste sie, dass es keine Rettung mehr gab.»
Florian Christ legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter.
«Wir sollten langsam aufbrechen, Paps. Die Gäste warten bereits im Lokal.»
«Geht schon mal vor. Ich bleibe noch einen Moment hier.»
Markus blickte seinen drei Kindern nach, die mit ihrem Grossvater den Friedhof verliessen. Anna, ich bin stolz auf unsere Kinder. Unsere Zweitgeborene, Tina, war immer dein Liebling. Ja, das ist so, ob du es zugeben willst oder nicht. Sie ist das geworden, was du dir immer gewünscht hast – Ärztin aus Leidenschaft. Markus schmunzelte. Ich sehe noch dein Gesicht vor mir, als Andrea, die Älteste im Bunde, verkündete, sie werde Polizistin. Für einen kurzen Moment warst du sprachlos, ich erinnere mich noch gut an unsere Sinnlosdiskussionen. Und dann folgte der zweite Schock, als unser Jüngster, Florian, uns eröffnete, er fühle sich zum Geistlichen berufen. Deine zahlreichen Versuche, ihn von seiner Berufung abzubringen, waren vergeblich. Ein Pfarrer! Wie schrecklich. Anwalt oder Architekt ja, das wäre in Ordnung gewesen, aber doch kein Pfaffe. In den letzten Jahren fandest du dich damit ab. Endlich, kann ich nur sagen. Und, wenn du ehrlich bist, weisst du, dass beide den richtigen Beruf gewählt haben. Gibs zu, du bist sogar stolz auf die erfolgreiche Kommissärin und den Pfarrer, der in den wenigen Jahren seines Wirkens viel in unserer Stadt bewegt hat. Anna! Warum lässt du mich allein? Wieso hast du mit niemandem über deinen Hirntumor gesprochen? Komm mir nicht damit, dass du es nicht wusstest. Es ist verdammt egoistisch von dir, mich einfach allein zurückzulassen.
«Chef, wir sollten langsam zu den anderen gehen», ermahnte ihn seine Assistentin sanft.
Irritiert sah sich Markus um.
«Nicole? Warst du die ganze Zeit hier?»
«Ja, natürlich. Wo soll ich sonst sein?»
«Bei den Gästen.»
«Wir sollten sie nicht länger warten lassen.»
«Gib mir noch eine Minute.»
Umständlich kramte Markus eine Münze aus der Jacke, legte sie ins Grab und bedeckte sie mit frischer Erde. Geh behutsam mit ihr um, Anna. Ich will sie zurück, wenn wir uns wiedersehen. Und das werden wir, meine Liebe.
«Der Wagen steht oben auf dem Parkplatz.»
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Der Schmerz und die tiefe Trauer wogen schwer.
«Danke, dass du gewartet hast.»
«Das ist mein Job.»
«Ist es nicht, aber ich weiss es sehr zu schätzen.»
Nicole Ryff begleitete die Karriere des Nationlarats seit mehr als zwölf Jahren. Als seine rechte Hand koordinierte sie alle Termine, hielt ihm den Rücken frei und griff zuweilen regulierend ein, wenn ihr Chef übers Ziel hinausschoss.
«Weshalb tust du das?»
«Was?»
«Du weisst, was ich meine.»
«Weil es mir Spass macht.»
«Einem mürrischen Politiker die Termine zu organisieren, stundenlang auf ihn zu warten und den ganzen Tag seinen Gemütsschwankungen ausgesetzt zu sein? Ich kann mir weit Besseres für eine intelligente, attraktive Dreissigjährige vorstellen.»
«Achtunddreissig.»
«Das ist keine Antwort.»
Nicole stieg in den Mercedes, Christ setzte sich auf den Beifahrersitz.
«Ist es ein Affront, wenn wir nicht am Leichenmahl teilnehmen?»
«Das ist es. Aber es wird keiner wagen, darüber ein Wort zu verlieren.»
«Und die Kinder?»
«Die kennen dich besser, als du dich selbst. Tina lässt dir ausrichten, dass es in Ordnung ist, wenn du nicht erscheinst. Sie versteht es.»
«Die Teilnahme so vieler Menschen entsprach absolut nicht meinem Wunsch nach einer Beisetzung im engsten Familienkreis.»
«Ja, leider. Da unsere Telefone in den letzten Tagen heissliefen, war ich darauf vorbereitet.»
«Deshalb auch der Lautsprecher ausserhalb der Kapelle.»
«Genau. Es war eine würdige Abdankung. Florian war sehr gut … Ich musste weinen.»
«Das heisst viel.»
«Das letzte Mal weinte ich beim Tod meines Bruders. Nach Hause?»
«Du schuldest mir noch eine Antwort.»
«Mir macht es wahnsinnig Spass, dein Sekretariat zu leiten.»
«Aber das genügt dir doch nicht auf lange Sicht.»
«Überlass das getrost mir. Für die nächsten Tage habe ich alle Termine abgesagt.»
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