Das Wartezimmer war bist auf den letzten Stuhl besetzt. Vor allem ältere Personen konsultierten die junge Frau Doktor gern. Eine glückliche Wende, wenn Tina an den harzigen Start dachte. Der kurz vor der Pension stehende Kollege Hans Sommer hatte sich zwar redlich Mühe gegeben, seine Patienten auf den Wechsel einzustimmen. Aber dienstags und donnerstags, wenn Frau Doktor die Praxis alleine führte, blieben die Patienten aus, um dann in Scharen an den anderen Tagen ihre Blessuren vom richtigen Arzt pflegen zu lassen. Erst, als sich herumsprach, dass Tina auch Hausbesuche mache, brach das Eis. Sommer verkaufte die Praxis an Tina und geniesst seinen wohlverdienten Ruhestand in Südfrankreich. Inzwischen zählten auch immer mehr jüngere Menschen zu den Patienten, der Mundpropaganda sei Dank. Und so mauserte sich die Praxis zu einer wahren Goldgrube. Monatelang suchte Tina intensiv nach einer Partnerin, aber diejenigen, die mit ihr studiert hatten, winkten alle ab, rümpften die Nase bei der Vorstellung, Hausärztin zu werden. Es war einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ihre Suche Erfolg hatte. An einer christlichen Tagung lernte ihr Bruder Florian eine Ärztin kennen, die in Afrika für Ärzte ohne Grenzen tätig gewesen und nun auf Jobsuche war. Tinas Skepsis verflog rasch, als sie sich auf Drängen ihres Bruders trafen. Sabine Stettler entpuppte sich als aufgeschlossene, lebensfrohe Person und keineswegs als christliche Sektiererin mit Weltverbesserer-Genen. Die beiden Frauen ergänzten sich optimal. Nach einem halben Jahr bot Tina ihr eine Teilhaberschaft an, die beinahe an einem Missverständnis scheiterte. Während Tina keine Minute über einen Einkauf in die Praxis nachdachte, lehnte Sabine aus finanziellen Gründen ab. Zum Glück brachte der zufällige Besuch und die direkte Art ihres Vaters Klarheit. Sabine konnte nicht glauben, dass sie zum Nulltarif Partnerin wurde, und Tina war entsetzt, dass es beinahe am Geld gescheitert wäre.
Bis um zehn untersuchten sie in ihren Sprechzimmern die Patienten. Einige litten unter der Grippewelle, andere stellten sich zu Nachuntersuchungen ein. Tina versuchte, sich so gut es ging auf ihren Job zu konzentrieren, schweifte aber immer wieder mit ihren Gedanken ab. Was habe ich falsch gemacht? Wie konnte mir das passieren? Was bin ich bloss für eine Ärztin, erkenne bei meiner eigenen Mutter die Symptome nicht? Allein die ewige Müdigkeit hätte bei mir Alarmstufe rot auslösen müssen. Aber ich war nur für meine Patienten da und sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Wie konnte ich nur?! Schmerzerfüllt stürzte sich Tina wieder in die Arbeit. Gegen halb zwölf war der letzte Patient versorgt und auch Sabine legte ihr letztes Dossier auf den Tisch.
«Ich bin fix und fertig. Wie fühlst du dich?»
«Ganz okay.»
«Sag mir, wenn ich dich unterstützen kann. Du kannst gern ein Time-out nehmen, Norbert springt bestimmt ein. Er ist gerade für zwei Wochen aus Afrika da.»
«Um dich zu überzeugen, dass du in Kenia gebraucht wirst?»
«Es war eine schöne und intensive Zeit. In jeder Beziehung, auch mit Norbert. Doch das ist vorbei. Ich träumte immer von einer eigenen Praxis, von Patienten, die mir vertrauen, für die ich da sein kann. Spitäler sind und werden für mich immer Horrorgebilde bleiben. Ich könnte da nie arbeiten. In Afrika gings noch einigermassen, wir mussten oft improvisieren. Das fordert dich und kostet Substanz. Eine Zeit lang verkraftest du die chaotischen Zustände, aber nicht auf Dauer. Ich war lange auf der Suche, dank dir bin ich endlich angekommen.»
«Ist Frau Morath schon da?», Tina deutete auf die Krankenakte.
«Nein, noch nicht. Soll ich beim Gespräch dabei sein?»
«Besser nicht, sonst bekommt die Diagnose eine noch drastischere Bedeutung. Bleib aber bitte in der Nähe. Wenn sie blockiert, bin ich auf deine Unterstützung angewiesen.»
Einige Minuten später wurde die Patientin von der Sprechstundenhilfe in den Behandlungsraum geführt.
«Setzen Sie sich bitte, Frau Morath. Wie geht es Ihnen?»
«Ich fühl mich schlapp. Ich würde am liebsten den ganzen Tag schlafen, schlafen und nochmals schlafen. Ist das Resultat gekommen?»
«Ja. Leider treffen meine Befürchtungen zu.»
«Krebs?»
«Brustkrebs. Die linke Brust ist betroffen.»
«Sind Sie ganz sicher?»
«Es bestehen keine Zweifel.»
Dagmar Morath blickte nachdenklich in die Ferne. Sie wirkte in sich zusammengesunken.
«Ich hatte es geahnt. Was … was kann man dagegen tun?»
«Sie haben Glück im Unglück. Sie sind im Frühstadium zu mir gekommen. Ich möchte Sie an einen Spezialisten überweisen, der weitere Untersuchungen vornehmen wird. Ihre Heilungschancen stehen gut.»
«Muss ich operiert werden?»
«Ja, das ist unabdingbar und danach steht eine Chemotherapie an. Ich möchte, dass Sie sofort meinen Kollegen aufsuchen.»
«Wie … was ist der Grund, dass ich Brustkrebs bekommen habe?»
«Mit absoluter Sicherheit kann Ihnen das niemand sagen. Es gibt verschiedene Risikofaktoren. Rauchen, falsche Ernährung, zu viel Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung, Übergewicht, Diabetes Typ II und auch Vererbung.»
«Bin … bin ich danach entstellt?»
«Wenn wir sofort reagieren, kann der Tumor vermutlich ohne grosse sichtbare Veränderung der Brust entfernt werden. Wichtig ist, dass wir nicht lange zuwarten.»
«Es … es kommt so plötzlich … Krebs … Sind Sie wirklich sicher?»
«Ja. Dagmar, ich weiss, dass Sie jetzt schockiert sind. Doch die Gewissheit hat auch Vorteile. Wir können jetzt rasch handeln.»
«Ich … ich muss es mit Erwin besprechen.»
«Das ist Ihr Mann?»
«Er muss es wissen. Erwin und meine Eltern. Sie müssten auf meine Kinder aufpassen, wenn ich operiert werde.»
«Selbstverständlich. Besprechen Sie es mit Ihrem Mann. Ich will Sie nicht drängen, aber ich möchte einen Termin mit meinem Kollegen vereinbaren. Er ist Experte auf diesem Gebiet.»
«Ich rufe Sie heute gegen Abend an, nach meinem Gespräch mit Erwin.»
Tina begleitete die sichtlich unter Schock stehende Patientin hinaus.
«Wie nahm sie es auf?», erkundigte sich Sabine.
«Schockiert, aber gefasst. Sie hat es erwartet.»
«Was passt dir daran nicht?»
«Ihre Reaktion. Sie will zuerst mit ihrem Mann darüber sprechen.»
«Das ist doch ganz normal.»
«Ja, schon. Ich bat sie zur Eile und wollte einen Termin mit Alex vereinbaren. Irgendwie wich sie mir aus. Es war, als ob sie es überhörte. Normalerweise sind meine Patienten sofort einverstanden und dankbar über meine schnelle Reaktion. Sie empfand es eher als störend, als Eindringen in ihre Privatsphäre.»
«Bildest du dir das nicht bloss ein?»
«Vielleicht. Wir werden sehen, ob sie wie versprochen gegen Abend anruft.»
Pfarrer Florian Christ öffnete mit einem Inbusschlüssel die Glasvitrine beim Seiteneingang des Gemeindehauses und drückte den Zettel mit den aktuellen Anlässen nach alter Väter Sitte an die Pinwand, denn nicht jeder informiert sich online. Unserem Informationskasten würde ein neuer Anstrich guttun, wie dem gesamten Haus. Mist! Der Zettel hängt schief. Florian rückte ihn zurecht und strich sich mit zitternder Hand durch die Haare. Die letzten Tage hatten deutliche Spuren hinterlassen. Wenn ich ehrlich zu mir bin, stimmt zurzeit einiges bei mir nicht. Mams Tod gab mir den Rest. Wie lange kann ich noch verbergen, dass mir alles über den Kopf wächst? Florian schloss die Vitrine und setzte sich vor dem Haus auf die Treppe. Eigenartige Situation, geradezu paradox. Täglich bitten mich Leute um Hilfe. Ich tröste sie, gebe ihnen gutgemeinte Ratschläge, an die ich selbst nicht glaube. Der Glaube, ein grosses Wort. Das Schlimmste ist, ich habe meinen verloren. In den vergangenen Tagen wurde mir das so richtig bewusst, als ich die Abdankungsrede fürs Münster und gestern die Beisetzung auf dem Hörnli verfasste. Stundenlang sass ich vor dem Computer, tippte Bibelsprüche zum Einstieg ein, verwarf sie immer wieder, um es erneut zu versuchen. Keiner war passend genug für den Schmerz, die Trauer und für die Wut, die ich mit Worten erfassen und von der Kanzel herabschreien wollte. Wieso traf es gerade meine Mutter? War sie durch ihre harte Kindheit nicht genug gestraft? Von den Eltern im Stich gelassen, wuchs sie im Heim als Aussenseiterin auf. Sie erzählte nur wenig, aber man spürte die tiefen Verletzungen. Wie in Trance verfasste ich schliesslich die Predigt und erschrak ob des Resultats. Es war eine einzige Anklageschrift gegen Gott, dem ich eigentlich mein Leben widmen wollte. Was war nur geschehen? Seit Monaten spürte ich eine zunehmende Verunsicherung. Zuerst dachte ich noch, der innere Sturm würde sich wieder legen, aber es war ein Irrtum, ein Selbstbetrug. Die Zweifel nehmen überhand, totale Verweigerung macht sich breit. Gleichwohl hielt ich im Münster eine flammende Rede. Wie ich mich für jedes einzelne Wort schämte, weil es nicht aus dem Herzen kam, sondern aus dem berechnenden Verstand. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit Gott abzurechnen. Ganz bestimmt nicht. Aber diese leeren Worte waren ein Verrat an Mam, ein unwürdiger Abschied. Nach Vaters Rede fühlte ich mich noch mieser, denn seine Worte sprühten von echter Liebe.
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