Und, obwohl ich mir schwor, dass sich das nicht wiederholen würde, brachte ich auch auf dem Hörnli den Mut nicht auf, die Wahrheit herauszuschreien. Dass ich nicht an diesen Gott glaube, der seine Gläubigen peinigt. Ich muss das Ganze beenden, meinen Dienst für den Nächsten aufgeben. Ein Pfarrer, der nicht an das glaubt, was er verkündet, hat keine Berechtigung, sein Amt länger auszuüben. Die Gemeindemitglieder verdienen es, die Wahrheit zu wissen. Stöhnend erhob sich Florian. Seit Monaten ziehe ich eine billige Show ab, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich gescheitert bin. Mam wusste es, aber sie hielt sich zurück. Dabei war sie von Anfang an gegen meine Berufswahl. Nun ist es an der Zeit, die Konsequenzen zu ziehen und Veränderungen zuzulassen. Loslassen, die Wahrheit aushalten, zusammenbrechen, um nach einer gewissen Zeit neu aufzubrechen. Wohin weiss ich nicht. Wir werden es sehen. Traurig stapfte Florian ins Pfarrhaus zurück. Es werden mich nur wenige vermissen. Etwa Theodora, die endlich von der Nadel ist. Sie wird es schaffen. Sie ist eine starke Persönlichkeit, die nur einen Anstoss benötigte und jemanden, der an sie glaubte. Bei Leo habe ich Zweifel, seine Depressionen haben sich eher verstärkt. Ihm würde eine neue Beziehung guttun. Florian setzte sich an den Laptop und begann, seine Kündigung zu schreiben. Ein Querdenker weniger, meine Vorgesetzten werden die Korken knallen lassen. Die liessen mich sowieso nur machen, weil ich ein Christ bin und sie Grossvater und Paps fürchten. So verfrachteten sie mich nach Kleinhüningen, weit weg vom Schuss. Florian schaute sich in seinem Büro um. Ich werde dieses liebgewonnene Haus, die Menschen, die ihm Leben einhauchen, vermissen. Es war trotz allem eine gute Zeit.
«Was liegt an, Chef?»
«Ich möchte am Wochenende mit meinen Kindern sprechen. Kannst du das bitte für mich arrangieren?»
«Samstag oder Sonntag?»
«Egal. Wann es ihnen passt.»
«Ein Essen?»
«Ja, Hannah wird kochen.»
«Weshalb?»
«Weil mir danach ist. Ich spüre, dass wir alle in der Luft hängen. Jeder auf seine Art. Wir müssen als Familie darüber sprechen und zusammenhalten. So hätte es Anna an meiner Stelle gemacht.»
«Gut, wird organisiert.»
«Du kommst auch.»
Nicole sah Markus überrascht an.
«Du gehörst zur Familie, ich akzeptiere keine Absage.»
«Ich finde das keine gute Idee. Es gehört sich nicht, dass ich beim ersten gemeinsamen Essen nach dem Tod von Anna am Tisch sitze. Du willst die Trauer mit deinen Kindern aufarbeiten, da bin ich ein Störfaktor.»
«Tina und Andrea wenden sich mit allen Problemen an dich, schütten ihre Sorgen über dir aus. Florian sucht bei jeder Gelegenheit deine Nähe.»
«Bloss wir sprechen keine zehn Sätze miteinander.»
«Weil er verklemmt ist.»
«Trotzdem, ich will nicht.»
«Aber ich. Und ich erwarte, dass du mir diesen kleinen Gefallen erweist. Du gehörst dazu. Ende der Diskussion. Wie sieht die heutige Tagesplanung aus?»
«Gutes Stichwort. Ich möchte dich zum Mittagessen einladen.»
«Akzeptiert. Wohin gehen wir?»
«Zum Kannenfeldpark.»
Nicole manövrierte den Mercedes aus der Garage.
«Wie im Wilden Westen. Die Cowboys gingen auch nie nur einen Meter zu Fuss. Immer hoch zu Ross. Heute fahren wir schnelle Autos.»
«Willst du damit sagen, dass es einfacher gewesen wäre, mit dem Tram zu fahren?»
«Allerdings, und umweltfreundlicher. Unsere Stadt verfügt nämlich über ein formidabel ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz. In Basel sind wir in den meisten Fällen mit dem Tram schneller am Ziel.»
«Ich fahre gern Auto.»
«Ein überzeugendes Argument. Kannenfeldplatz sagst du? Da kenne ich nur das ‹Matisse› in der Burgfelderstrasse.»
«Lass dich überraschen.»
Nicole lenkte den Merz am Spalentor vorbei in die Missionsstrasse. Gegenüber des Felix Platter-Spitals bog sie rechts in die Largitzenstrasse ein und parkierte vor einem Einfamilienhaus.
«Jetzt bin ich gespannt, wohin du mich führst.»
Nicole suchte nach einer bestimmten Hausnummer und klingelte. Nach einiger Zeit öffnete eine alte Frau.
«Lisa Kolb?»
«Ja, Sie wünschen?»
«Nicole Ryff. Wir haben heute früh miteinander gesprochen. Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?»
«Ich weiss nicht … Jesses! Sie sind ja der Herr Christ.»
«Er ist mein Chef. Ich möchte, dass Sie ihm Ihre Geschichte erzählen.»
Langsam trat die Frau zur Seite.
«Ich … ich kann Ihnen nicht einmal etwas anbieten. Wenn ich gewusst hätte, dass Sie mich besuchen, hätte ich Kuchen besorgt, Herr Nationalrat.»
«Mein Chef ist auf Diät.»
«Ich habe vom Tod Ihrer Frau gehört. Mein herzliches Beileid. Dieser Verlust muss schlimm für Sie sein. Sie war ja noch so jung.»
«Danke. Es ist ein schwerer Schicksalsschlag. Anna war die Liebe meines Lebens. Sie fehlt mir sehr.»
«Wie bei Anton und mir. Aber, was rede ich da. Kommen Sie herein, das Wohnzimmer befindet sich am Ende des Flurs. Setzen Sie sich auf den bequemen Sessel zum Garten hinaus, Herr Nationalrat. Sie können es sich neben mir bequem machen, Frau Ryff. Und entschuldigen Sie das Durcheinander. Ich bin so aufgeregt. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ich Sie persönlich kennenlernen darf, Herr Christ.»
«Schön haben Sie es hier. Pflegen Sie den Garten selbst?»
«Mit Hilfe einer Nachbarin. Die Hecke schneiden und das Unkraut jäten ist mir zu anstrengend.»
«Ein richtiges Blumenmeer.»
«Lieben Sie Blumen?»
«Blumen waren die grosse Leidenschaft meiner Frau. Ich durfte nur in den Garten, um mich auszuruhen. Wehe, ich kam ihren Lieblingen zu nahe.»
«Sie können ruhig hinausgehen.»
Christ erhob sich und trat in den Garten.
«Ich bin ganz nervös. Wieso haben Sie mich nicht vorgewarnt?», flüsterte die alte Frau.
«Es war eine spontane Idee von mir.»
«Wie das hier aussieht. Was denkt der Herr Nationalrat jetzt nur von mir?»
«Soll ich ihn fragen?»
«Ja nicht.»
«Ich bin immer wieder von Neuem überrascht, wie viele prächtige Oasen hinter den Mauern zum Vorschein kommen. Man spürt, wie sehr Sie Ihren Garten lieben.»
Christ schloss die Verandatür.
«Erzählen Sie meinem Chef die Geschichte.»
«Ich weiss nicht … Da sind wir doch selbst schuld.»
«Mich interessieren die Menschen unserer Stadt», bestätigte Christ.
«Also gut. Frau Ryff … sie wollte wissen, warum wir unser ganzes Geld bei Redding anlegten … Zuerst waren wir skeptisch. Man hört ja immer wieder von Betrügern, die vor allem ältere Menschen um ihr Erspartes bringen. Aber es klang alles sehr plausibel.»
«Stellte Ihnen Redding einen hohen Gewinn in Aussicht?»
«Er kam zu Besuch und erklärte uns, wie wir unser Vermögen vermehren könnten.»
«Und versprach Ihnen eine unrealistische Rendite.»
«Nein, nein. Darauf wäre Anton nie hereingefallen. Die garantierte Rendite betrug fünf Prozent. Redding stellte uns sein Bauprojekt in Spanien vor, eine Feriensiedlung am Meer. Überall auf der Welt muss man mit terroristischen Anschlägen rechnen, doch Spanien ist ein sicheres Land und nicht weit weg. Das klang sehr erfolgversprechend. Die Banken zahlen ja keine Zinsen mehr, es soll sogar Minuszinsen geben.»
«Wie viel investierten Sie?»
«Anton traute der Sache nicht so recht. Sie müssen wissen, Herr Nationalrat, mein Anton ist immer selbstständig gewesen. Wir besassen bis zu seiner Pension ein kleines Malergeschäft. In guten Zeiten konnte er sogar drei Leute beschäftigen. Einer davon kaufte ihm dann die Firma ab … Wie war noch die Frage?»
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