Die Place du Châtelet, eine etwas unwirtliche Gegend, der das namensgebende „Schlösschen“ irgendwie fehlt, bringe ich rasch hinter mich und beginne die Tour gleich mit einem Umweg. Statt in die Rue Saint-Denis biege ich noch schnell in die Rue des Halles, wo ich, wenn ich in der Nähe bin, gerne die Boulangerie von Monsieur und Madame Dheilly aufsuche. Sie gehört zum erlauchten Club der im legendären Boulangerie-Guide „Cherchez le pain“ aufgelisteten besten hundert Bäckereien der Stadt. Akribisch untersucht darin der amerikanische Historiker Steven L. Kaplan, der sich auf die Geschichte des Brotes spezialisiert hat, die Baguettes der Hauptstadt nach den Kriterien „Aussehen“ (drei Punkte), „Kruste“ (drei Punkte), „Teig“ (drei Punkte), „Kaugefühl“ (ein Punkt), „Duft/Aromen“ (fünf Punkte), „Geschmack“ (fünf Punkte). Zwanzig Punkte, wie im typisch französischen Schulnotensystem vorgesehen, sind also zu vergeben. Ich kenne das System noch aus dem Literaturstudium an der Sorbonne Nouvelle, dort funktioniert es so: Zwanzig Punkte bekommt der liebe Gott, 19 Racine, 18 Molière, 17 der Professor. Von Punkt 16 abwärts sind die Studenten dran.
Auch Steven L. Kaplan geht streng mit den ohnehin besten Bäckereien der Stadt ins Gericht: Das Brot von Laurent Dheilly findet er nicht schön genug, weil es ihm zu flach und zu länglich ist. Er lobt aber die Kruste und vor allem das Innere („schön luftige Struktur, crèmefarben, körperreich, rund, appetitlich“), den Duft („sehr aromatisch, frühlingshaft frisch“) und den Geschmack („erfreulich und gut ausgewogen“). Wer das nachprüfen will, muss für das Traditionsbaguette bloß 1,15 Euro investieren. Mir steht an diesem Morgen aber der Sinn nach Nahrhafterem, ein Pain au chocolat muss es sein. Ich finde es, ganz ohne Punkte zu vergeben, hervorragend. Mit dem Schokoladengebäck in der Hand und den Bröseln auf dem Mantel gebe ich mich sofort als Ausländer zu erkennen: Ein richtiger Pariser würde niemals mitten auf der Straße von seiner Viennoiserie abbeißen, sondern sich im nächsten Café einen Espresso bestellen und sein Gebäck dort verzehren. Das darf man nicht nur, es ist durchaus üblich. Wen der Anblick von totem Ungeziefer nicht vom Essen abhält, der kann auch vor der Auslage des legendären Ratten-Vernichters Aurouze gleich neben der Bäckerei an seinem Croissant knabbern und dabei die vor über hundert Jahren zwischen oder unter den Markthallen gefangenen Riesennager aus der goldenen Zeit des Hallenviertels bewundern.
Ratten-Vernichter Aurouze
Ich gehe lieber durch die Rue Courtalon, eine enge alte Straße, die bereits im dreizehnten Jahrhundert erwähnt wurde, in Richtung Rue Saint-Denis. In einer Parallelstraße, der Rue de la Ferronnerie, wurde der viel geliebte König Henri IV. erstochen, woran heute noch ein ins Pflaster gearbeitetes Wappen erinnert. Als ich die Rue Saint-Denis erreiche, wirkt diese gar nicht königlich, sondern schäbig: Fast-Food-Lokale, Schuhgeschäfte und die ersten paar Sex-Shops dieser vor wenigen Jahren noch als Sündenpfuhl berüchtigten Straße dominieren das Bild – immerhin kann man sich mit dem Wissen trösten, auf historischem Boden zu wandeln.
Das kann man auch bei der Fontaine des Innocents, wenige Schritte weiter stadtauswärts: Der Name dieses Brunnens erinnert an den ältesten Friedhof der Stadt, den „Cimetière des Innocents“. Benannt wurde er nach einer benachbarten, den unter König Herodes massakrierten Kindern geweihten Kirche, die heute nicht mehr steht. Bereits die Merowinger begruben hier ihre Toten, über zwei Millionen Menschen sollen bis 1780 auf dem ursprünglich außerhalb der Stadt gelegenen Friedhof bestattet worden sein. Neun Tage brauchte die Erde dieses Friedhofs, um einen Leichnam zu „fressen“, erzählte man sich. Die Knochen aus aufgelassenen Gräbern wurden in Beinhäusern gelagert. Kurz vor der Revolution von 1789, als Teile der Mauern und der überquellenden Beinhäuser zusammenzubrechen begannen, wurde der Friedhof geleert. Fünfzehn Monate lang rollten täglich makabre Prozessionen mit Wägen voller menschlicher Überreste, von Priestern begleitet, in Richtung der aufgelassenen Steinbrüche im vierzehnten Arrondissement, die von nun an als Katakomben dienten. Der Renaissance-Brunnen wurde von der Rue Saint-Denis, wo er Teil der Inszenierung königlicher Triumphzüge war, auf seinen heutigen Platz einige Meter von der Straße entfernt versetzt. Damals wurde auf dem vormaligen Friedhofsgelände ein neuer Markt eingerichtet. Dieser verlor seine Funktion wiederum im neunzehnten Jahrhundert mit dem Bau der Markthallen, die dem seit dem zwölften Jahrhundert bestehenden zentralen Markt der Hauptstadt einen würdigen, der Eleganz und Opulenz der Belle Époque entsprechenden Rahmen verliehen.
Ein wuchtiges „Blätterdach“, die Canopée
Ihrem gegen heftigen Widerstand durchgesetzten Abriss in den 1970er-Jahren folgten zehn Jahre, in denen ein gähnendes Loch genau dort klaffte, wo sich der von Émile Zola für alle Zeiten in der Literaturgeschichte verewigte „Bauch von Paris“ befunden hatte. Ein Teil wurde mit dem unterirdischen Riesenbahnhof Châtelet/Les Halles gefüllt, an dem sich fünf Métro- und drei RER-Linien kreuzen. 750 000 Passagiere benützen den Bahnhof täglich. Wer aus der Banlieue oder vom Flughafen nach Paris kam, wurde hier bis vor wenigen Jahren noch von einem schäbigen, unübersichtlichen Einkaufszentrum empfangen, doch damit ist es seit 2016 vorbei: Ein „Blätterdach“, auf Französisch „Canopée“, aus riesigen Stahl-Lamellen soll das heller und übersichtlicher gestaltete Einkaufszentrum vor Regen schützen, aber luft- und lichtdurchlässig belassen. Der spektakuläre Bau stieß zunächst auf gemischte Reaktionen: Er war um vieles teurer als vorgesehen, wirkte klobiger als auf den vorab präsentierten Modellen und hielt zu allem Überdruss den Regen auch nur teilweise ab. Freilich: Niemand behauptet, es wäre schlechter als das, was hier noch vor ein paar Jahren stand, und die Sache mit den undichten Stellen hat man mittlerweile in den Griff bekommen.
Mich zieht es ohnehin nicht wegen des Einkaufszentrums in die Gegend, sondern wegen dessen Umgebung: Das Herz des Viertels wurde 1971 zwar weggerissen, aber viele der Arterien, die zu ihm führten, pulsieren nach wie vor. Auch manche Gaststätten aus den goldenen Zeiten der Hallen gibt es noch, etwa in der Rue Rambuteau, die nördlich an der Baustelle vorbeiführt, das typische Hallen-Bistro Au Père Fouettard mit seiner stilvoll patinierten Inneneinrichtung und dem längst nicht mehr genützten Regal, in dem Stammgäste früher ihre Stoffservietten aufbewahrten, oder La Fresque , ein weiterer dieser praktischen Klassiker, die es einem ersparen, sich bei Shopping-Touren von Fast Food oder Systemgastronomie ernähren zu müssen, wie man das in ähnlichen Einkaufslandschaften andernorts eben hinnimmt. Hier bin ich gestern bei meinen Recherchen zu Mittag eingekehrt und habe den Wirt gleich um das Rezept des Kabeljaurückens mit Chorizo-Sauce gefragt, den es als Mittagsteller gab – typische Pariser Bistro-Küche: einfache Zutaten, ein schnelles Rezept und doch ein hervorragendes Gericht. Angesichts des Trubels hat er mich gebeten, am nächsten Vormittag wiederzukommen, hier bin ich nun. Und habe Glück. Der freundliche Mann, der gerade mit dem Besen in der Hand im Eingang lehnt und eine Verschnaufpause macht, ist Küchenchef Jean-Louis Winnebroot persönlich, der mir das Rezept gern weitergibt. Allerdings sind die Zutatenlisten, wenn man mit Restaurant-Köchen über ihre Rezepte spricht, meist gewöhnungsbedürftig: Man nehme fünf Liter Schlagobers … Hier gilt: Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl und Ihre Vorlieben, dann wird das schon. Wichtig ist ihm vor allem nach Gefühl zu kochen und die Qualität der Zutaten, auf die er beim Erklären immer wieder hinweist. Also:
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