In der Rue Manin erklärt mir die Historikerin anhand der Häuser auf unserem Weg einige Unterschiede zwischen den verschiedenen Baustilen des neunzehnten Jahrhunderts und die strengen Vorschriften, mit denen unter Haussmann dafür gesorgt wurde, dass die großen Schneisen, die er durch die alte Stadt schlagen ließ, ein einheitliches, der „Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts“ würdiges Bild boten. Um auch mitreden zu können, werfe ich ein, dass es bei den haussmanschen Avenuen und Boulevards doch auch darum ging, ein freies Schussfeld für Polizei und Militär bei der Niederschlagung von Aufständen zu haben, wie man häufig in Büchern über Paris lesen kann. Ich hätte mein Bücherwissen wohl besser für mich behalten, die sonst so charmante Autorin wird plötzlich sehr scharf: „Freilich, das kann man überall lesen, aber das ist doch völlig idiotisch! Man kann von Napoléon III. halten, was man will, aber der hätte doch niemals aufs Volk schießen lassen! Und wer hat sehr wohl aufs Volk schießen lassen?“ Da ich etwas betreten schweige, fährt sie fort: „Die Republik! Und das gleich zweimal: im Juni 1848 und bei der Niederschlagung der Kommune. Und danach haben sie diese Eseleien verbreiten lassen. Geschossen haben aber sie und nicht etwa Napoléon III. Der wollte, dass die Pariser über schöne Avenuen ins Theater spazieren können, sonst nichts.“ Erstaunlich, wie heftig die stramm linke Historikerin den durch einen Staatsstreich an die Macht gekommenen Kaiser verteidigt, aber Gegenargument fällt mir keines ein.
Buttes Chaumont
Während ich mein Geschichtsbild und meine Meinung über den Baron Haussmann meinem neuen Wissensstand anpasse, spazieren wir den Park der Buttes Chaumont entlang, auch dieser – für mich der schönste – Pariser Park geht auf die Regierungszeit Napoléons III. beziehungsweise das Schaffen Haussmanns zurück, der den durch langjährigen Gipsabbau von Stollen durchlöcherten Hügel aufwendig zu einem Landschaftsgarten nach englischem Vorbild umgestalten ließ. Mich versetzt der Anblick des prächtigen Parks mit seinen Baumriesen, seinem Wasserfall und seinen Belle-Époque-Laternen, dem Ententeich und dem kleinen Kindervergnügungspark, der Kasperlbühne und dem sonntäglichen Ponyreiten immer in nostalgische Stimmung – unzählige wunderschöne Stunden habe ich hier mit meinem in Paris geborenen ältesten Sohn verbracht.
Wir sind bei einer langen Stiege hinter dem Rothschild-Spital angelangt, die wir langsam erklimmen. Oben angekommen, sind wir nicht mehr in Paris, sondern in einem Dorf, dessen Existenz man von unterhalb der Stiege nicht vermuten würde. Es ist die Butte Bergeyre, wie der benachbarte Park ein vom Gipsabbau ausgehöhlter Hügel, dessen abenteuerliche Geschichte mir die Autorin erzählt. Der legendäre Betrüger Alexandre Stavisky, der in die größten Wirtschaftsskandale der Zwischenkriegszeit in Frankreich verwickelt war, soll seine Hände bei der Parzellierung im Spiel gehabt und mit dem Verkauf der ersten Grundstücke, die einen fantastischen Blick über die Stadt boten, eine schöne Stange Geld verdient haben, ehe Gebäude errichtet wurden, die genau diesen Blick verstellten. Mir ist nicht ganz klar, ob die Geschichte stimmt oder ein Gerücht ist. Immerhin stiftete der polnischstämmige Meisterbetrüger Stavisky selbst über seinen Tod hinaus Verwirrung: Er brachte es zustande, sich angesichts seiner drohenden Verhaftung zwei Kugeln in den Kopf zu jagen, was ernsthafte Zweifel an der These weckte, es habe sich dabei um Selbstmord gehandelt.
„Roter Glamour“ (Nos fantastiques années fric) heißt der Krimi, den Dominique Manotti teilweise in dem Viertel angesiedelt hat, das sie selbst bewohnte, bevor sie vor ein paar Jahren – als ihr die vielen Stufen zu mühsam wurden – in eine Wohnung mit Lift direkt am Bassin de la Villette zog.
Wir bleiben vor einem Haus in der Rue Rémy de Gourmont stehen, auf Nummer 7: Heute ein reines Wohnhaus, doch als Manotti als blutjunge Universitätsdozentin aus dem heimatlichen Savoyen hierher zog, war das Erdgeschoß noch ein Gemischtwarenladen. Sie fand es damals rührend, wenn sich die alten Leute, die entweder fast nichts mehr sahen oder nie lesen gelernt hatten, vom Besitzer des Ladens ihre Post vorlesen ließen. Erst viel später begriff sie, dass die freundlichen alten Damen, von denen das Viertel wimmelte, sonntags ihren Stammtisch im Hinterzimmer des Ladens hatten und dort flaschenweise Whisky tranken. „Sonntag für Sonntag besoffen sie sich da drin gepflegt mit Whisky, und ich habe nichts gemerkt“, lacht Manotti heute. Und nicht nur das: Ihre unmittelbare Nachbarin führte ein winziges Wirtshaus, in dem es zu Mittag nur ein einziges Gericht gab. Hier traf sich die gesamte Nachbarschaft zum Mittagessen, doch eines Tages war Schluss damit: Mit 71 beschloss die Wirtin, ihren Lebensabend auf Korsika zu verbringen, woher sie stammte. Ihre Sorgen angesichts ihres Nachfolgers vertraute sie ihrer jungen Nachbarin an: „Kochen kann er ja. Aber ich glaube nicht, dass er das mit den Mädchen hinkriegen wird.“ Erst in diesem Moment begriff Manotti, dass die freundliche alte Dame die Nachbarschaft nicht nur mit Gerichten aus Großmutters Kochbuch versorgte, sondern nebenbei auch ein Geheimbordell betrieb.
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