Ein Beben erfasste die Höhle, gewann sekündlich an Stärke. Risse durchzogen die Felsen.
Kenon war am Ende seiner Kräfte. Bereits vor Shairi hatte er blitzschnell Menschen hierhergebracht, Hunderte kauerten in der Kaverne.
»Wenn du recht hast …« Rakun musste sich stützen.
Er hatte die sechzig längst überschritten und war sowieso nicht mehr der Fitteste.
Shairi bedeutete ein paar Magiern, zur Seite zu treten. Eine mehrere Schritte durchmessende freie Fläche entstand. Es war ihr verboten, außerhalb der geschützten Kammern den Zauber zu sprechen, doch in dieser Situation besaßen die alten Regeln keine Bedeutung mehr.
Und so sprach Shairi die magischen Worte und schuf die zugehörigen Symbole, die die Realität aufbrachen. Ein schwarzer Schlund entstand, aus dem Dunkelheit floss.
»Der Weg in ein Splitterreich!«, verkündete sie. »Ich weiß nicht, was uns am Ziel erwartet, doch Iria Kon wird untergehen.«
»Aber … Du darfst nicht …« Rakun blickte entsetzt zwischen ihr und dem Spalt hin und her.
»Ich muss.« An alle anderen gewandt sagte sie: »Diese Katakomben werden einstürzen. Wenn ihr leben wollt, kommt mit mir.«
Und damit tat sie den Schritt.
Der Spalt nahm Shairi auf, riss sie fort von Iria Kon und schleuderte sie durch die Dunkelheit zwischen den Welten. Die Reise dauerte nur wenige Sekunden, dann taumelte sie über eine Ebene, angefüllt mit dunkler Erde.
Shairi starrte entsetzt auf die am Horizont tanzenden Wirbelstürme, die abgestorbenen Pflanzen, den brackigen Untergrund. Das hier war kein lebendiges Splitterreich, es lag im Sterben.
»Flammen des Anbeginns«, erklang die entsetzte Stimme von Rakun. »Dieser Ort ist verdammt.«
Immer mehr Flüchtende kamen aus dem Spalt. Shairi spürte bereits, wie ihre Essenz zur Neige ging.
»Hilf mir, den Durchgang stabil zu halten«, bat sie Rakun.
Er nickte kurz, wenn auch widerstrebend. »So sei es.«
Kenon schloss sich an und weitere folgten. Sie hielten den Riss offen, bis alle hindurch waren.
»Die Katakomben stürzen ein!«, brüllte die letzte Gruppe. »Wasser!«
Shairi zeichnete das Symbol und verschloss den Spalt. Ein Schwall schwappte herüber, dann war die Verbindung gekappt.
Iria Kon existierte nicht länger.
»Ich hatte auf ein wenig mehr Sonne gehofft.« Kenon zuckte nur mit den Schultern. »Aber immerhin leben wir.«
Dankesrufe wurden laut.
Die meisten der Anwesenden wussten, dass Shairi die Magie zur Passage in ein anderes Splitterreich niemals hätte weitergeben dürfen. Jeder, der es gesehen hatte, konnte die Magie nachvollziehen.
»Dann sollten wir nicht länger in dieser Einöde stehen.« Rakun deutete an die Stelle, an der der Spalt gewesen war. »Öffne einen weiteren Durchgang und bringe uns zurück. Doch auf das Festland.«
Shairi wirkte die Magie erneut. Doch nichts geschah.
»Was ist los?«, fragte Kenon.
»Es funktioniert nicht.« Sie runzelte die Stirn. »Etwas verhindert, dass der Zauber manifestiert. Er zerfasert.«
Rakun wurde bleich. »Das Reich wurde versiegelt. Auf dass niemand es verlassen kann. Wir brauchen Wachen!«
Sofort zogen Magier einen Kreis um die Gruppe, jederzeit bereit, sie zu verteidigen.
»Du denkst an ein Gefängnisreich?«, fragte Shairi.
»Schlimmeres. Spürst du es denn nicht?«
Sie lauschte in sich hinein und nickte schließlich. »Da ist etwas. Ein Hauch vom Anbeginn.«
»Ein Rest«, beruhigte Kenon.
»Das hier war ein Kriegsschauplatz«, stellte Rakun klar. »In der alten Zeit wurde hier eine Schlacht ausgetragen.«
Shairi erinnerte sich daran, die Schriften studiert zu haben. Überall hatten die dunklen Heerscharen versucht, ihren Stand zu behaupten. Jedes Siegel war tausendfach mit Blut erkauft worden, und dann, endlich, hatte der Wall erschaffen werden können. In den letzten Tagen des gefallenen Königreichs.
»Aber welches der Reiche war dieses hier.« Shairi sah sich aufmerksam um.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Rakun. »Die Siegel lassen niemanden hinaus. Das wäre zu gefährlich. Sie konnten nicht zulassen, dass etwas vom Anbeginn – das lebt – in unsere Welt zurückkehrt.«
Und so waren all jene Reiche versiegelt worden, in denen der Wall nicht wirkte.
»Damit sind wir gefangen«, schloss Kenon, was ihn jedoch nicht zu beunruhigen schien. »Der Preis für unser Überleben.«
»Ich bewundere dein sonniges Gemüt, mein Freund.« Rakun legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte leicht zu. »Doch dir ist der Ernst der Situation nicht klar.«
»Hier gab es einst ein Hochreich, nicht wahr?« Er streifte Rakuns Hand ab.
»Es ist im Krieg gefallen, wie alle.«
»Dann erbauen wir es eben neu.«
Selbst Shairi musste schmunzeln. »Und wie willst du das anstellen?«
»Für den Anfang schlage ich vor, dass wir uns eine sichere Behausung suchen.« Er deutete auf den Horizont. »Die Stürme kommen nämlich näher.«
Und genau das taten sie.
Mit Kraftschlägen wurden Erdreich und Gestein herausgesprengt, bis tiefe Höhlen geschaffen waren. Dort brachten sie sich vor dem Sturm in Sicherheit, fanden Wasser und richteten sich ein.
In den folgenden Tagen ging Shairi mit Kenon auf die Suche. Durch seine Gabe des Springens konnten sie weite Strecken zurücklegen.
Schließlich fanden sie heraus, in welchem Reich sie gelandet waren.
Ich erinnere mich.« Rakun schritt zwischen den Trümmerstücken umher.
Kenon saß auf einem Stein und überblickte die Ebene. Die Ausläufer der Stadt waren zerstört, der Rest jedoch erhalten.
»Erzähl es uns«, bat Shairi.
Die anderen waren in den Höhlen zurückgeblieben.
»Die Kinder des Himmels«, erläuterte Rakun, wobei er seinen beachtlichen Bart zwirbelte, »waren eines der zuverlässigsten Völker im Kampf gegen den Anbeginn. Vermutlich war das der Grund, weshalb die Horden einen Weg in dieses Reich fanden, angezogen von der Reinheit des Essenzkerns.«
Der Rest der Welt hatte den Anbeginn durch den Wall längst vergessen, lediglich die dunklen Artefakte waren noch überall verstreut und erinnerten an den vergangenen Schrecken. Obgleich ohne Details.
Nur wenige Magier in Iria Kon besaßen das Wissen über jene Zeit. Rakun als einer der Wissenswahrer gehörte ebenso dazu wie Shairi als Grenzgängerin zwischen den Reichen und Kenon, der als Springer grundsätzlich über alles informiert war, musste er doch in jeder Situation einen kühlen Kopf bewahren.
»Die Kinder des Himmels rechneten nicht damit, in ihrem eigenen Reich attackiert zu werden. Ihre fliegenden Städte boten weite Angriffsflächen.«
Bei den Worten des Weisen überfiel Shairi ein Schauer. Wie schrecklich musste es sein, wenn die Stadt, in der man sich gerade aufhielt, zu Boden krachte.
»Wie viele davon gab es?«, fragte Kenon
»Die sieben Städte der El-O-Hym«, erwiderte Rakun. »Zahlreiche Kämpfer sprachen von Hybris, als sie die Magie verankerten und mit dem Kern des Reiches verbanden.«
»Sie besaßen Flügel.« Shairi erinnerte sich an einen der Texte, den sie kurz überflogen hatte. Das Volk der Lüfte hatte auf einer Zeichnung wie Engel aus den religiösen Schriften der Nimags gewirkt.
»Die Strahlung des Essenzkerns hat sie verändert. Ich fürchte, auch uns wird das passieren.« Rakun schüttelte betrübt den Kopf.
»Warum ist das schlimm?«, fragte Kenon. »Wäre es nicht toll, wenn wir über den Boden dieser Welt gleiten könnten?«
Der Berater und Freund warf dem jüngeren Mann einen mitleidigen Blick zu. »Reicht es nicht, diesen Ort des Todes zu betrachten?« Er machte eine allumfassende Geste, die die Trümmerstadt mit einschloss. »Der Mensch – ob Magier oder Nimag – ist nicht dazu bestimmt, sich über den Erdboden zu erheben. Zumindest nicht über kurze Zauber hinaus.«
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