»Wir sind heute älter«, merkte Kevin an.
»Und weiser«, stellte Alex klar.
Ein belustigtes Funkeln schlich sich in den Blick von Kevins Granny, doch sie kommentierte die Aussagen nicht. »Haben wir denn eine Möglichkeit? Der fixierte Tunnel existiert seit dem Kampf gegen die Schattenfrau nicht mehr und H. G. ist verschwunden.«
Immer öfter realisierte Kevin, was sie durch die Zerstörung des Castillos und der anderen Häuser verloren hatten. Die Rebellen der Zuflucht besaßen kein Geld, keine Ressourcen. Viel zu langsam bekamen sie einen Zipfel der alten Macht zurück, doch die Gefahr schwebte weiterhin wie ein Damoklesschwert über ihnen.
»Ich habe eine Idee.« Alex warf sich auf das Krankenbett neben dem von Jen. »Somnus.« Ein kurzer Schwenk mit seinem Essenzstab, und er schlief ein.
»Jules Verne«, begriff Kevin.
Kurzerhand legte er sich in ein weiteres der Betten. Es blieb zu hoffen, dass die Oberste Heilmagierin sie nicht bemerkte, sonst würden sie hochkant aus dem Krankenflügel geworfen.
»Somnus.«
Die Umgebung verschwand, und dank des Schaltwortes, das Kevin in seinem Unterbewusstsein verankert hatte, trat sein Geist auf die Traumebene ein. Wie immer erschien er dort einfach in einem Gang der Akademie, die Jules Verne leitete.
»Wo ist Alex?«, fragte er.
In der Luft erschien ein bernsteinfarbener Nebel, der ihn zu dem Freund führte.
»Vielleicht weihst du mich das nächste Mal ein«, sagte er vorwurfsvoll.
»Sorry, ich mache mir Sorgen.«
»Und wie immer ist unser junger Freund dabei ungestüm.« Jules Verne betrat den Raum.
Grundsätzlich unterschied dieser sich nicht von einem ganz normalen Zimmer in der Zuflucht. Sah man davon ab, dass die Fenster einen Ausblick auf die Schweizer Alpen gewährten, Blütenduft in der Luft lag und Sonnenschein hereinfiel. Die Zuflucht befand sich aktuell in einem schlammigen Canyon in Amerika. Der Regen schien kein Ende zu nehmen, und der nächste Sprung lag noch einen Tag entfernt.
Neben ein paar einfachen Möbeln sowie einem Bücherregal gab es ein steinernes Becken im Zentrum. Auf der Oberfläche waren Personen zu erkennen.
»Jens Traum«, erklärte Jules Verne, der den verblüfften Blick von Kevin bemerkte. »Ich habe gestattet, dass wir Einblick nehmen. Jen mag sich nicht im stabilen Bereich der Traumebene befinden, doch sie träumt.«
»Es ist mehr als das.« Alex starrte gebannt auf das Wasser.
Geschwungene Bauten, Anlegestege und Gondeln, dazwischen flanierten lachende Menschen.
»Venedig«, erkannte Kevin sofort. »Aber wann?«
Jules Verne betrachtete interessiert, was sich im Becken abspielte. »Schwer zu sagen, doch wenn ich den Schnitt der Kleidung richtig deute, dazu der sichtbare Prunk, handelt es sich um einen Ball. Venedig war für lange Zeit eines der wichtigsten Handelszentren der Welt. Bis zu dem Zeitpunkt, als …«
»Jetzt bitte keine Lehrstunde«, stoppte Alex den Redefluss.
Verne seufzte. »Ich sollte einen Kurs für manierliches Benehmen einrichten und dich dazu zwingen, ihn zu besuchen, Alexander Kent.«
»Er macht sich nur Sorgen um Jen«, sprang Kevin dem Freund zur Seite.
»Und ich versuche zu helfen«, stellte Verne klar. »Ihr wollt doch die Zeit eingrenzen, aus der der Zeitschatten stammt, nicht wahr?«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Alex. »Diese Inkarnationssache ist nur komplizierter, als es den Anschein hat. Ohne Erinnerungen zumindest. Jen kann damals auch ein Mann gewesen sein.«
»Das hatte ich vergessen.« Kevin nickte langsam. »In eurer Inkarnationsfolge wurdet ihr immer wieder mit unterschiedlichen Geschlechtern geboren.«
Sie wussten, dass Jen und Alex einmal ein männliches Paar gewesen waren. Zum damaligen Zeitpunkt hatte der Freund den Namen Kylian getragen und war mit Johanna, Leonardo und Grace auf der Suche nach Antworten zum alten Pakt gewesen.
»Das macht es nicht leichter.« Kevin wandte sich Jules Verne zu. »Kannst du uns einen Anhaltspunkt liefern?«
Die Szenen im Wasser wechselten in kurzer Folge ab. Sie waren Zeuge eines prunkvollen Maskenballs, erlebten eine Verfolgungsjagd magisch angetriebener Gondeln, ein Palazzo stürzte ein, und eine Flutwelle konnte im letzten Augenblick vor Venedig gestoppt werden.
»Es war die Zeit vor dem Wall«, erklärte Jules Verne. »Magier sind in diesen Szenen Teil der normalen Gesellschaft. Dieser Bankier dort vorne umgibt sich mit einer Leibwache aus drei Männern, von denen jeder einen Essenzstab trägt.«
»Das lässt bedauerlicherweise einen ziemlich großen Zeitraum offen.« Alex kratzte sich am Kopf.
»Du hast viele Monate in meiner Traumbibliothek verbracht, dich in Geschichte, Zauber und weit mehr eingelesen.« Verne deutete auf die nächste Szene. »Sag du mir, wann das spielt.«
Kevin konnte nicht sagen, ob es eine Revanche für Alex‘ Frechheit war, doch immerhin schien es hier einen Hinweis zu geben, der erkennbar war. Der Unsterbliche hatte das Rätsel gelöst.
Vorsichtig stützte sich Alex auf dem Rand des Wasserbeckens ab und studierte die Szene. Es war eine Zusammenkunft wichtiger Männer. An einem Podest saßen weitere in Roben, fast wirkten sie wie Richter.
»Das ist die Signora«, begriff Alex. »Die Stadtregierung.«
»Schau, jener dort links.« Verne deutete auf einen Kerl mit dunklen Locken.
»Er sagt mir nichts.«
»Das ist Cosimo de Medici.« Der Hüter der Traumebene nickte mit Nachdruck. »Und er ist verheiratet, doch recht jung. 1415 würde ich sagen. Plus minus ein Jahr. Aber durch einen Zauber, der euch mit der Erinnerung verbindet, könnt ihr das relativ exakt anpeilen.«
Die Spannung fiel von Alex ab. »Danke.«
»Womit wir allerdings noch ein Problem zu lösen haben«, stellte Kevin klar.
Wie gelang es ihnen, in die Vergangenheit zu reisen? Jules Verne hatte keine Idee.
Sie beendeten mit dem Schaltwort den Schlaf und kehrten ins Bewusstsein zurück.
Vor ihnen stand ein Besucher, mit dem Kevin in diesem Augenblick am wenigsten gerechnet hätte.
Memorum Excitare
Was ist …«
»Keine Zeit.« Finger schlossen sich um ihr Handgelenk.
Die Umgebung verging in einem Wirbel aus Farben und Formen. Shairi taumelte, konnte sich jedoch auf den Beinen halten.
»Was soll das, Kenon?«
Sie hätte erwartet, dass der Sprungmagier mit dem schwarzen Haar schuldbewusst dreinblicken würde – immerhin hatte er sie direkt vor den Türen eines Ratsmitglieds weggeholt –, doch in seinen Augen lag nackte Panik.
»Iria Kon geht unter«, haspelte er.
Erst jetzt bemerkte Shairi die übrigen Magier, die hier ausharrten. Sie hatten sich in kleinen Gruppen zusammengefunden, hielten ihre Essenzstäbe fest umschlungen und sahen sich hektisch um.
Kenon verschwand erneut, tauchte kurz darauf mit zwei weiteren Magiern wieder auf. Innerhalb der nächsten Minuten füllten sich die Katakomben.
»Shairi.«
»Rakun!« Sie umarmte den väterlichen Freund. »Was ist los?«
»Pure Macht«, hauchte er. »So etwas habe ich nie zuvor gespürt. Iria Kon wird fallen. Jemand greift uns von innen heraus an.«
»Eine Besucherin«, rief ein Jüngling. »Ich habe sie zu einem der Ratsherren gebracht. Sie sprach davon, aus der kommenden Zeit zu stammen.«
Shairi schloss die Augen. Das war es. Genau davor hatte er sie gewarnt. Der Untergang der Insel. Sie hatte es nicht ernst genommen.
»Die Katakomben werden einstürzen«, sagte sie.
»Nicht einmal die Mächtigen der Zitadelle könnten diesen Ort vergehen lassen«, versuchte Rakun, sie zu beruhigen.
»Alles hier wird vernichtet«, gab Shairi nicht minder leise zurück. »Die Macht aus der kommenden Zeit ist gewaltiger als alles bisher Gewesene.«
Glücklicherweise kehrte in diesem Augenblick Kenon zurück, eine Frau mit Kind an seiner Seite. »Eine Flutwelle. Die Schiffe zerbrechen.«
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