Innerlich lächelte Leonardo. Was auch sonst passiert sein mochte – immerhin das war etwas Gutes. Er kannte Tomoe schon viele Jahre und ihr Weg war noch nie einfach gewesen. Doch endlich schien sie einen Teil des Schattens abgestreift zu haben, der ihre Seele vergiftet hatte.
»Das klingt, als sei dieser alte Freund genau das, was du gebraucht hast.« Er machte eine ausladende Handbewegung, die Trümmerteile, Sand und Gebäudereste einschloss. »Da du der Archivarin ja Weitsicht unterstellst, hast du eine Idee, was wir hier sollen? Langsam glaube ich, dieses Ziel war ein Unfall.«
Und nach einer guten Woche an jenem Ort knickte auch Anne ein. Grace suchte Hinweise, damit sie ihre Analysefähigkeiten und ihre Kombinationsgabe einsetzen konnte, doch vergeblich.
Sie bildeten täglich Gruppen und gingen auf Erkundung, aber abgesehen von gewaltigen Statuen und riesigen Trümmerteilen hatten sie nichts gefunden.
»Du bist noch so ungeduldig wie früher.« Tomoe lächelte. »Manche Dinge scheinen sich nie zu ändern.« Ihr Blick glitt auf etwas in der Ferne, hinter ihm.
Er fuhr herum. Doch da war nichts. Oder doch?
»Ist da …«
Tomoe setzte sich bereits in Bewegung. Flink pirschte sie in den gelben Nebel. Leonardo blieb hinter ihr, in seiner Hand lag längst der Essenzstab.
Sie hatten mit mehr als einem Zauber versucht, Licht ins Dunkel dieses Ortes zu bringen. Doch obgleich Magie problemlos funktionierte, enthüllte sie nichts. Im vorliegenden Fall gab es jedoch etwas, das sie tun konnten.
Tomoe zeichnete ein Symbol in die Luft und murmelte die notwendigen Worte. Eine Windböe fegte den Nebel hinweg. Der Effekt hielt nur wenige Minuten vor, doch das reichte aus.
»Ein Trümmerfeld«, hauchte Leonardo.
»Was auch immer hier geschehen ist, die Ruinen sind weit verstreut. Möglicherweise handelt es sich um die Reste von Städten, die über das Splitterreich verteilt waren.«
»Ein Krieg?«, überlegte er. »Ich habe mehrere davon erlebt, in einem sogar selbst Apparaturen angefertigt, die eingesetzt wurden.«
In seinem Geist wirbelten die Bilder umher. Er erinnerte sich an Venedig, die Medici und vieles mehr. Auf Gondeln war er durch die Wasserstraßen geglitten, hatte an Maskenbällen teilgenommen und sich in seinen jungen Jahren vergnügt.
Eine Zeit, die lange zurücklag.
Eine Ewigkeit.
In seinem Leben als Nimag, vor der Magie, vor Johanna und Piero.
»Sind es nicht immer die Kriege, die eine Zivilisation zu Fall bringen?«, fragte Tomoe.
»Es mag seltsam klingen, aber es kommt durchaus vor, dass Gesellschaften dadurch wachsen.«
»Auf die falsche Art, möchte ich sagen.«
»Und da kann ich dir nur zustimmen.« Leonardo erschuf einen Agnosco-Zauber. »Dort vorne. Da ist etwas.«
Sie eilten zwischen den Ruinen hindurch, wo der Nebel sich das verlorene Territorium zurückeroberte. Immer dichter wurde das Gespinst, sank herab und verschlang die Welt erneut.
Stufen ragten vor ihnen aus dem Sand, dahinter ein halb eingefallener Eingang. Entgegen ihrer ersten Vermutung, dass die Wesen dieses Splitterreichs von enormer Größe gewesen sein mussten, besaßen die Durchgänge normale Proportionen.
Von einer Halle zweigten mehrere Gänge ab. Die Böden waren von Mosaiken bedeckt, doch darüber hinaus wies nichts auf die Bewohner hin.
»Dort.« Tomoe war unvermittelt stehen geblieben und deutete auf einen der Durchgänge »Da lang.«
»Was ist los?«
»Ich weiß nicht … Nur ein Gefühl.« Sie ging voraus, doch etwas in ihrer Gestik hatte sich verändert.
»Tomoe, was ist?«, hakte Leonardo noch einmal nach.
»Die Bauweise, die Strukturen.« Sie blickte zu Boden. »Die Mosaikmuster. Das habe ich schon mal gesehen.«
»Wo?«
Sie schüttelte den Kopf. »In einem Buch? Auf Zeichnungen? Ich weiß es nicht.«
Erst bei diesen Worten realisierte Leonardo, dass es ihm ähnlich erging. Er war noch nie hier gewesen, das stand fest. Doch etwas an diesem Ort wirkte vertraut.
Schweigend folgten sie dem Gang, der in eine kleine Halle führte. Zumindest einer Hälfte davon, der Rest war von Sand verschüttet. Das Wenige reichte aus, um die Vermutung zu bestätigen.
In eine der Wände war ein Satz gemeißelt worden.
»Möge der Friede erhalten bleiben«, las Tomoe. »Ich denke, wir sollten die anderen holen.«
Leonardo nickte nur.
Der Satz an sich war nichts Außergewöhnliches, die Sprache indes durchaus.
»Wie kann das sein?«, fragte er.
»Ich habe eine Vermutung«, erklärte Tomoe. »Aber zuerst die anderen.«
Leonardo verließ das Gebäude und erschuf ein Signalfeuer. Die anderen würden sich sofort zu ihnen auf den Weg machen.
Ohne zu warten, kehrte er zurück zu Tomoe. »Erledigt.« Sein Blick wanderte wieder an jene Stelle an der Wand, an der die Worte wie ein Mahnmal auf ihn herabschauten. »Die alte Sprache von Iria Kon.«
»Möge der Friede erhalten bleiben«, wiederholte Tomoe. »Eine Hoffnung, die eindeutig scheiterte.« Sie sah sich langsam um. »Wir müssen herausfinden, was hier geschehen ist.«
Ich sehe es dir an, du hast eine Theorie.«
»Leonardo da Vinci.« Grace betrachtete ihn süffisant. »Immer noch das Genie von damals. Natürlich habe ich eine Theorie.«
Auch wenn er froh darüber war, die alte Freundin wieder in ihrer Mitte zu wissen, war ebenfalls das Bedürfnis zurückgekehrt, sie permanent durchzuschütteln.
»Ich war nie auf Iria Kon«, ergänzte Grace.
Sie war als Frau Anfang der Vierziger ins Leben zurückgekehrt. Das schwarze Haar trug sie schulterlang, an ihrem linken Ringfinger einen Siegelring. In ihren Händen hielt sie einen Expeditionshelm, wie er 1914 gängig gewesen war. Grace‘ Hemd war blütenweiß, selbst nach den Erlebnissen ihrer bisherigen Reise, und die Treckinghose nur leicht verschlissen. Sie wirkte wie eine Urwaldentdeckerin aus einem Tarzan-Film.
»Flüchtlinge«, mischte Anne Bonny sich in das Gespräch ein. »Könnte das sein?«
»Es gab nicht viele Überlebende«, sagte Clara mit krächzender Stimme. Nach der Rettung aus dem Albtraum, zu dem Merlin sie und Leonardo verdammt hatte, wirkte sie noch ein wenig ausgezehrt. »Die Schattenfrau hat jedes lebende Wesen auf Iria Kon getötet, bevor sie die Stadt von der Landkarte verschwinden ließ.«
»Folgen wir doch weiter dem Hinweis, den der Agnosco geliefert hat«, schlug Anne vor.
Ein wahres Labyrinth aus Gängen schloss sich an, wobei ein großer Teil unter dem Sand vergraben war. Sie mussten Schwerkraftzauber und Muskelkraft kombinieren, um sich den Weg freizuschaufeln. Stunden vergingen. Schließlich rauschte ein letzter Rest Sand davon und gab den Blick frei auf einen Raum mit einem gewaltigen Schwimmbecken, in dessen Innerem sich Flüssigkeit erhalten hatte. Sie war brackig, durchzogen von Schlamm.
Als sie eintraten, leuchtete etwas im Boden auf und die durchscheinende Silhouette einer Frau erschien. Sie hatte dichtes, welliges Haar und fein geschnittene Züge. Ihr Alter mochte in den Dreißigern oder Vierzigern liegen, so genau war das nicht auszumachen.
»Willkommen, Gesandte des Castillos«, sprach sie sanft. »Ihr seid hier und sucht nach Antworten, ihr sollt sie erhalten. Kommt und seht, was einst geschah. Mehr kann ich nicht mehr tun. Wenn ihr diesen Ort betretet, liegt die Dämmerung längst über dem Licht.« Ein trauriges Lächeln lag auf ihrem Antlitz. »Mögen die Vorfahren mit euch sein.«
In einem Flackern verschwand das Bild.
Im Boden des Beckens öffnete sich ein Spalt, was dazu führte, dass der gesamte Schlamm nach unten wegschwappte. Direkt in einen verborgenen Raum.
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