gelb: Lobus frontalis
rot: Lobus parietalis
blau: Lobus occipitalis
grün: Lobus temporalis
1Gyrus cinguli
2Sulcus parietooccipitalis
3Cuneus
4Sulcus calcarinus
5Gyrus praecentralis
6Gyrus postcentralis
7Sitz des motorischen Sprachzentrums; Broca-Zentrum
8Sitz des sensorischen Sprachzentrums; Wernicke-Zentrum
Die verschiedenen Gyri des Großhirns können, wie gerade exemplarisch für den Gyrus cinguli gezeigt, verschiedenen Funktionen zugeordnet werden. Die genauen Namen dieser Gyri sowie deren Funktion werden in den Kapiteln 11 und 12 über das motorische bzw. sensible System behandelt. Ein allgemeiner Überblick soll jedoch jetzt schon gegeben werden.
Lobus frontalis – der Frontallappen
Im Frontallappen liegen zum einen wichtige Zentren für höhere geistige Funktionen des Menschen, zum anderen auch motorische Areale. Manche bezeichnen den vorderen Anteil des Lobus frontalis als den Regisseur des Zentralnervensystems, als Träger unserer Kultur und überhäufen ihn mit weiteren Superlativen. Und tatsächlich, obwohl große Bereiche des Frontallappens motorische Aufgaben haben, wird dessen vorderster Bereich, der präfrontale Kortex, immer wieder im Zusammenhang mit Aufmerksamkeit, Nachdenken, Entscheidung und Planung genannt. Außerdem gilt er als Sitz der Persönlichkeit. Diese intellektuellen Funktionen des Frontallappens finden sich vor allem in Richtung Stirn. Die Bedeutung des Frontallappens für die Bildung der Persönlichkeit wird eindrucksvoll durch das Schicksal des Phineas Gage demonstriert.
Der Fall Phineas Gage
Der 25-jährige Vorarbeiter Phineas Gage ist ein Routinier in Sprengungen. Die Bohrlöcher entlang der geplanten Eisenbahntrasse im US-Bundesstaat Vermont füllt er mit Schießpulver und verschließt sie danach mit Sand, welchen er mithilfe eines sieben Kilo schweren und drei Zentimeter dicken Eisenstocks feststampft. Eigentlich kann nichts schiefgehen. Am 13. September 1848 aber vergisst Gage den Sand und schlägt mit seinem „Ladestock“ direkt auf das Pulver. Er schrappt am Stein vorbei; Funken sprühen und die Explosion treibt die Stange komplett durch Gages Kopf. Die über einen Meter lange Stange tritt in der Höhe des Auges durch den Wangenknochen ein und tritt schlussendlich am Hinterkopf wieder heraus. Eigentlich müsste Gage tot sein, doch er ist nur kurz bewusstlos. Dann steht er eigenständig auf und fährt mit einem Ochsenkarren in seine Unterkunft. „Doktor, hier gibt es ordentlich was zu tun für Sie“, begrüßt er den herbeigeeilten Arzt John D. Harlow.
Dr. Harlow leistet ausgezeichnete Arbeit. Trotz der offenen Verletzung in Schädel und Gehirn überlebt Gage den unglücklichen Unfall. Äußerlich fehlt ihm fortan nur ein Auge, aber sein Verhalten verändert sich schlagartig. Zwar spricht er weiterhin normal und erinnert sich an alles, was mit ihm passiert ist. Auch sein Intellekt scheint unverändert. Als Vorarbeiter, der er war, ist er jedoch nach dem Unfall nicht mehr einsetzbar. Der einstmals zuverlässige Mann kann sein Leben nicht mehr organisieren. Und seine ehemals höfliche und freundliche Art ist blankem Jähzorn und Respektlosigkeit gewichen. Durch seine merkwürdige Persönlichkeitsveränderung wird Gage zu einem Anschauungsobjekt der relativ neuen Hirnforschung. Sein Retter John D. Harlow macht 1868 die Verletzung des Frontalhirns dafür verantwortlich: „Die Eisenstange zerstörte die Regionen von Mitgefühl und Autoritätsgefühl, nun beherrschen animalische Leidenschaften seinen Charakter“, urteilt der Arzt – eine gewagte These in einer Gesellschaft, nach deren Glauben jeder Mensch von Gott auf die ihm einzigartige Art und Weise geschaffen worden ist. Dass ausgerechtet das Sozialverhalten durch einen Unfall in Mitleidenschaft gezogen werden kann, verstört die Zeitgenossen. Heute ist die Vorstellung, dass bestimmte Regionen im Gehirn für bestimmte Funktionen zuständig sind, allgemein akzeptiert.*
Am hinteren Ende des Frontallappens findet sich der primär motorische Kortex (der Gyrus praecentralis, Motokortex, Abb. 2.9), der maßgeblichen Anteil an der willentlichen Bewegung hat. Er steht also im Dienste der Somatomotorik. Im basalen Anteil des Frontallappens, genauer gesagt im Gyrus frontalis inferior, befindet sich das Broca-Areal bzw. Broca-Zentrum. Hier ist der Sitz des motorischen Sprachzentrums, also des Gehirnanteils, der die Muskeln zur Aussprache eines Wortes ansteuert und koordiniert. Eine Schädigung des Gehirns im Broca-Areal, nicht selten bei einem Schlaganfall zu beobachten, führt zu einer einer motorischen Aphasie, d. h.einer erworbenen Sprachstörung, bei der aber das Sprachverständnis weitgehend intakt bleibt. Für das Sprachverständnis ist eine Region am Übergang des Temporal- in den Parietallappens zuständig (Wernicke-Zentrum; siehe unten). Hier soll schon einmal erwähnt werden, dass sich das Broca-Zentrum genauso wie das Wernicke-Zentrum nur in der dominanten Hemisphäre befindet. Diese ist beim Rechtshänder in aller Regel links.
Lobus parietalis – der Scheitellappen
Der Parietallappen beginnt unmittelbar hinter dem motorischen Gyrus praecentralismit einem Gyrus postcentralis. Der Parietallapen (Scheitellappen) liegt somit hinter dem Frontallappen und ist von diesem durch die Zentralfurche, den Sulcus centralis getrennt. Der Gyrus postcentralis gehört funktionell zum somato-sensiblen System, empfängt also bewusste Sinneseindrücke wie Schmerz, Druck, Vibration, Temperatur etc. Bezogen auf unser weiter oben bereits erwähntes Beispiel mit dem Fußballspieler wird der Gyrus postcentralis bei einem Foul aktiviert und erlaubt es dem Gefoulten, Aussagen über Intensität und Lokalisation einer möglichen Verletzung treffen zu können. Läsionen im Gyrus postcentralis führen demzufolge zu einer eingeschränkten Empfindungsfähigkeit des repräsentierten Körperteils. Das betrifft Berührung, Druck und Temperatur, weniger jedoch den Schmerz. Der Parietallappen geht nach hinten in den Lobus occipitalis über, die Grenze bildet der Sulcus parietooccipitalis. Diese Grenze zwischen Parietal- und Okzipitallappen ist in der medio-sagittalen Sichtweise besonders deutlich zu identifizieren. Es bietet sich also an, in der praktischen Prüfung in eben dieser Sichtweise auf das Gehirn den Übergang von Parietal- in Okzipitallappen zu demonstrieren.
Alle weiteren Bereiche des Parietallappens, die nicht dem Gyrus postcentralis entsprechen, haben eine eher integrative Funktion. Diese abstrakte Formulierung ist eigentlich leicht zu verstehen. Stellen Sie sich vor, vor Ihnen auf dem Tisch liegen zwei Gegenstände: ein Tennisball und ein Tischtennisball. Beide Gegenstände sind in ihrem Aussehen relativ ähnlich, trotzdem sind Sie dazu in der Lage, auch mit geschlossenen Augen herauszufinden, welches der Tischtennisball und welches der Tennisball ist. Sie wissen, dass ein Tischtennisball viel kleiner als ein Tennisball ist, weil sie es gelernt haben. Darüber hinaus hat der Tischtennisball eine glatte Oberfläche, wohingegen der Tennisball eine raue-filzige Oberfläche aufweist. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Tischtennisball um etliches leichter ist. Der Gyrus postcentralis sammelt die gesamten sensiblen Informationen, die für die Zuordnung verschiedener Gegenstände in diesem Beispiel verantwortlich sind. Mit den Fingerkuppen erfühlen sie die Oberflächenbeschaffenheit beider Bälle, über entsprechende Rezeptoren in den Muskeln und Gelenken können Sie das Gewicht der Bälle abschätzen (zumindest können Sie entscheiden, welcher Ball der leichtere und welcher der schwerere ist). All diese Informationen, isoliert für sich, helfen Ihnen nicht allzu sehr weiter: Sie müssen in einem nächsten Schritt in andere Informationen „integriert“ werden. Erst ein Abgleich mit dem, was sie bereits über kugelige Strukturen (in unserem Beispiel Bälle) gelernt haben, erlaubt es Ihnen zu entscheiden, welches der Tischtennisball und welches der Tennisball ist. Sie sehen, dass diese auf den ersten Blick recht simple Gehirnfunktion die Interaktion ganz verschiedener Gehirnareale erfordert. Genau diese Interaktion zwischen Sinneseindrücken und Gelerntem werden von weiten Teilen des Lobus parietalis vermittelt.
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