• Sie können häufige negative Folgen einer Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter benennen.
• Sie kennen realistische und unrealistische Erwartungen hinsichtlich des Störungsverlaufs unter psychotherapeutischer Behandlung.
2.1 Epidemiologie
2.1.1 Beginn der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter
Angststörungen, darunter auch die Soziale Angststörung, gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter überhaupt. Jedoch sind epidemiologische Studien insbesondere zu Erkrankungsraten im Grund- und Vorschulalter vergleichsweise selten (Cartwright-Hatton, McNicol & Doubleday, 2006). Im Erwachsenenbereich legen aktuelle Schätzungen eine Lebenszeitprävalenz der Sozialen Angststörung von ca. 4–7% nahe (z. B. Beesdo-Baum et al., 2012; Stein et al., 2017). Konsistente Befunde zeigen sich dahingehend, dass in der deutlichen Mehrzahl aller Fälle die Soziale Angststörung vor dem 18. Lebensjahr beginnt. Es wird geschätzt, dass die Soziale Angststörung bei etwa der Hälfte aller Fälle ihren Beginn vor dem 13. Lebensjahr hat (Beesdo-Baum & Knappe, 2012). Insbesondere bei stark generalisierten und breiten sozialen Ängsten beginnt die Soziale Angststörung fast immer vor dem Erwachsenenalter (Wittchen et al., 1999). Die Frage, ab wann die Soziale Angststörung am frühesten auftritt, kann aufgrund der aktuellen Forschungslage nicht eindeutig beantwortet werden. Einzelne Studien berichten, dass Kinder bereits ab einem Alter von drei oder vier Jahren die Kriterien für eine Soziale Angststörung erfüllen können (Dodd et al., 2015). Im Hinblick auf die äußerst geringen Prävalenzzahlen vor dem Alter von acht Jahren ( Kap. 1.1.2), scheinen diese Fälle jedoch im klinischen Alltag nur sehr selten vorzukommen. In vielen Fällen gehen einer Sozialen Angststörung – wie im Fallbeispiel – bereits ein deutlich gehemmtes Temperament und Schüchternheit im Vorschulalter voraus.
Definition: Epidemiologie
Epidemiologische Studien untersuchen Erkrankungsmerkmale wie Häufigkeit, Neuerkrankungsraten, Geschlechterverteilungen oder Krankheitsverläufe. Epidemiologische Untersuchungen finden häufig in großen repräsentativen Bevölkerungsstudien in einem Land statt. Häufigkeitsangaben beziehen sich in der Regel auf einen bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder einen Zeitraum (z. B. 12-Monats-Prävalenz oder Lebenszeitprävalenz). Weiterhin untersuchen epidemiologische Studien die Rate der Neuerkrankungen in einem bestimmten Zeitraum (Inzidenz).
2.1.2 Häufigkeit der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter
In Deutschland finden sich einige wenige große Studien, die die Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Störungen im Allgemeinen und somit auch der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter untersucht haben (Essau, Conradt & Petermann, 1999; Wittchen et al., 1999). Im Rahmen der Bremer Jugendstudie fanden Essau et al. (1999) an einer Stichprobe von 1035 Kindern und Jugendlichen im Alter von 12–17 Jahren, dass 1,6% die DSM-IV Kriterien für eine Soziale Angststörung irgendwann in ihrem Leben erfüllten. Diese Ergebnisse bestätigen frühere Befunde von Benjamin und Kolleg*innen, die in ihren Stichproben Häufigkeiten um 1,4% für klinisch relevante soziale Ängste fanden (Benjamin, Costello & Warren, 1990). In einer weiteren, groß angelegten deutschen Studie von Wittchen und Kolleg*innen (1999), im Rahmen der Early Developmental Stages of Psychopathology Study (EDSP), wurden 3021 Münchener Jugendliche und Erwachsene im Alter zwischen 14–24 Jahren untersucht. 7,3% der Stichprobe erfüllten zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens die Diagnose einer Sozialen Angststörung, die 12-Monats-Prävalenz lag bei 5,2%. An einer anderen, vergleichsweise jungen Stichprobe fanden Federer et al. (Federer, Stüber, Margraf, Schneider & Herrle, 2001) im Zuge der Dresdener Kinder-Angst-Studie (DKAS) bei 826 Kindern im Alter von acht Jahren eine Punktprävalenz von 0,4%. Insgesamt finden sich höhere Prävalenzraten bei Mädchen als bei Jungen.
Generell zeigen sich starke Schwankungen in den Prävalenzraten zwischen unterschiedlichen epidemiologischen Studien. Hierfür werden verschiedene Gründe diskutiert. Auf der einen Seite variieren die verwendeten Diagnosekriterien der Sozialen Angststörung zwischen den Studien. Beispielsweise scheinen Prävalenzraten geringer zu sein, wenn die Kriterien des ICD-10 im Vergleich zu den DSM-Kriterien verwendet werden (Adornetto, Suppiger, In-Albon, Neuschwander & Schneider, 2012). Da im ICD-10 anders als im DSM-5 eine körperliche Angstreaktion als Voraussetzung zur Diagnosestellung enthalten ist, jüngere Kinder aber häufig keine körperlichen Angstsymptome berichten (Muris, Merckelbach & van Spauwen, 2003), führt dies zu geringeren Prävalenzraten bei Verwendung der ICD-10-Kriterien. Ein weiterer Grund für die Prävalenzunterschiede zwischen verschiedenen Studien ist der Umgang mit Eltern- und Kindangaben zum Vorliegen von sozialen Ängsten. Studien zeigen, dass die Angaben von Eltern und Kindern insbesondere hinsichtlich internalisierender Symptome, darunter auch soziale Ängste, nicht übereinstimmen. Dies liegt beispielsweise daran, dass internalisierende Symptome für Eltern nur zu einem begrenzten Umfang beobachtbar sind und auch in Kontexten auftreten, in denen Bezugspersonen nicht anwesend sind (z. B. im Schulunterricht). Je nachdem, wie in epidemiologischen Studien das Vorliegen der diagnostischen Kriterien gewertet wird – Erfüllen der Kriterien durch entweder Kind- oder Elternangaben bzw. durch Übereinstimmung aller Informationsquellen – ergeben sich Unterschiede in den Prävalenzzahlen (Popp et al., 2017).
2.2 Verlauf der Sozialen Angststörung
Insbesondere für die Frage der psychotherapeutischen Indikation, also inwiefern eine Behandlung der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter zeitnah erfolgen muss, spielen Erkenntnisse über den Störungsverlauf eine große Rolle. Zeigen epidemiologische Daten, dass die Störung in den meisten Fällen ohne eine Behandlung nicht remittiert, ist eine psychotherapeutische Behandlung dringend in Betracht zu ziehen, um eine Störungschronifizierung und die Entwicklung von komorbiden Störungen und negativen psychosozialen Folgen zu verhindern. Insgesamt weisen Forschungsdaten drauf hin, dass von einer hohen Störungsstabilität der Sozialen Angststörung im Kindes- und Jugendalter auszugehen ist.
In einer großen spanischen Längsschnittstudie über den Zeitraum von 14 Jahren wurden über 24.000 Kinder und Jugendliche mit Angststörungen hinsichtlich der Diagnosestabilität untersucht. Neben Spezifischen Phobien zeigten Patient*innen mit einer Sozialen Angststörung die höchste Störungsstabilität (ca. 70%) im Vergleich zu anderen Angst- und Zwangsstörungen (Carballo et al., 2010). Während sich keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Störungsstabilität zeigten, wiesen Jugendliche mit einer Sozialen Angststörung eine leicht erhöhte Störungsstabilität (72%) im Vergleich zu Grundschüler*innen (66%) auf. Hinsichtlich der Störungsstabilität im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter fanden Beesdo-Baum und Knappe (2012) an der EDSP-Stichprobe, dass nach 10 Jahren zwar nur noch 15% der Stichprobe die Kriterien für eine Soziale Angststörung erfüllten, jedoch auch nur eine vergleichbare Anzahl von Patient*innen eine vollständige Remission der Störung berichtete. Die Autorinnen schließen hieraus, dass die Symptomatik der Sozialen Angststörung eine große Fluktuation aufweist, die Symptome insgesamt jedoch sehr stabil erscheinen. Besonders stabil scheint die Symptomatik der Störung zu sein, wenn soziale Ängste generalisiert, also in vielen verschiedenen Situationen, auftreten und wenn die Soziale Angststörung von anderen psychischen Störungen komorbid begleitet wird. Insgesamt erweist sich die Störung damit bereits im Kindes- und Jugendalter als sehr stabile psychische Störung.
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