Irmin Burdekat - Der Katholische Bahnhof

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Ronald ist Pächter des «Katholischen Bahnhofs», einer Kneipe, die er von seinem Vater übernommen hat. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Fußballclub Arminia Bielefeld, seinem Sohn Ché-Daniel, dem ständigen Streit mit seiner Ex und anhaltenden finanziellen Engpässen. Trotzdem textet er ab und zu seine eigene Hauszeitung («Die Thekenschlampe»); zur Unterhaltung für seine Gäste.
Der Sohn seines Vermieters, Spross der Fabrikantenfamilie Pretorius, schanzt Ronald den Auftrag für eine Familien- und Firmensaga zu («Alter, schreib mal was Fettes á la 'Buddenbrooks'!»). So wird der Gastwirt zum Chronisten, der sich mit zunehmender Leidenschaft, mit Interesse und Energie in die Lebens- und Liebesgeschichte des «Jungen Fabrikanten Pretorius» verbeißt: Der Junge Fabrikant ist als Gymnasiast für alle nur «Werther», weil er ein unerschöpfliches Reservoir an Goethezitaten zu haben scheint. Ein echter Goethe Fan! Und als der sich in Marlene verliebt und man den beiden ihre Liebe nicht lassen will, beginnt eine so kuriose wie bewegende Liebesgeschichte, die in Deutschland beginnt und sich Jahrzehnte später in Kanada fängt.
Die wunderbaren Figuren im Roman von Irmin Burdekat lieben, werden getrennt, verrennen sich und landen am Ende wieder dort, wo sie losgelaufen sind. So kommt es, dass Ronald, der Chronist und Erzähler, von seiner eigenen Geschichte eingeholt wird. Er berichtet, interpretiert und dreht sich eigentlich doch nur um sich selbst. Und ganz plötzlich wird ihm bewusst, dass er mitten in seiner eigenen Geschichte steht: Marlene und Werther finden nach einem ganzen Leben am Ende zusammen und beschließen zu heiraten. Und sie laden Ronald, den Wirt vom «Katholischen Bahnhof», der ihrer beider Leben so liebevoll nachgezeichnet hat, ein, dabei zu sein. Die Stränge laufen nun ineinander, die Ereignisse überschlagen sich noch einmal, das Erzählkonzept wird aufgelöst, da es über sich selbst hinauswächst und …. was lange währt, wird endlich gut.

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IRMIN BURDEKAT

DER KATHOLISCHE BAHNHOF

ROMAN

Für Antonia Luise Jesper Joshua Zoey Die die die Leude wolln das krass - фото 1

Für Antonia, Luise, Jesper, Joshua & Zoey

Die, die, die Leude woll’n das krass serviert!

Fünf Sterne deluxe

Kennen Sie den Katholischen Bahnhof ? Die Kneipe habe ich vor sieben Jahren von meinem Vater übernommen, als der plötzlich an Lungenkrebs starb. 33 Jahre lang täglich 60 Gitanes . Von sowas kommt sowas. Der Laden hieß bei meinem Vater noch Zum Lindenbaum . Mit dem neuen Namen gelang mir eine glatte Umsatzhalbierung, allerdings bei gleichzeitiger Verdoppelung des Niveaus meiner Gäste. Auf die Tische lege ich regelmäßig eine von mir verfasste Hauszeitung – Die Thekenschlampe –, in der ich alles rauslasse, was sich in mir zusammenbraut. Nicht jeder Gast hat Verständnis dafür, viele begreifen den Inhalt auch gar nicht, manche schütteln nur mit dem Kopf und basteln Schwalben aus den gefalteten DIN-A4-Blättern. Und Humor ist bei mir das, worüber ICH lache! Für manche meiner Gäste ein Problem.

Bevor ich den Betrieb von meinem Vater übernahm, führte mich die Agentur für No-Jobs unter „Arbeitsloser Halb-Akademiker“. Wahrscheinlich noch in einem hölzernen Karteikasten. Ich habe einige Semester Geschichte und Soziologie studiert, bin 41 Jahre alt und seit genau so vielen Jahren bettelarm. Ich stehe links, wähle aus Sentimentalität manchmal linksradikal und handele, den Umständen geschuldet, wirtschaftsliberal. Die Umstände sind Hanna – die mich nach vier gemeinsamen Jahren verlassen hat – und unser zweijähriger Sohn Ché-Daniel.

Meine Kneipe, also den Katholischen Bahnhof , habe ich für ordentliche 538,- Euro im Monat von der Familie Pretorius gepachtet. Denen gehört hier das halbe Viertel. Ich kenne den Junior. Sogar ganz gut. Er steht, ebenfalls aus Sentimentalität, in der Stehkurve bei der Arminia neben mir. Wir holen uns gegenseitig das Bier und haben beim Abstieg engumschlungen geweint. Ansonsten sind wir uns nicht nahe. Wie wenig nah, erkennt man daran, dass er mich beim Eintreten in den Bahnhof mit „Guten Tag, Herr Dr. Stiegmann“ grüßte. Im Stadion bin ich immer: „Ronald, hol’ mal Bier!“ Dennis Pretorius ist ein Idiot. Und damit genügend beschrieben. Fairerweise muss ich erwähnen, dass er mir das förmliche „Sie“ angedroht hat, als ich mal wieder mit der Miete im Rückstand war.

Dennis Pretorius schob sich lässig einen Barhocker vor den Bierhahn, aus dem ich souverän, ohne hinzuschauen, eine Runde Alt für den Stammtisch zapfte. Wenn man Augenkontakt zu den Kandidaten an der Theke behält, wird alles halb so schlimm, dachte ich, denn ich ahnte, was kommen würde. Aber es kam anders. „Hör’ mal, Herr Stiegmann, ich hätte da einen Deal für dich. Du kennst dich doch aus mit Büchern und Schreiben und so. Hast du nicht während deines Studiums bei einer Zeitung gejobbt? Und du hast doch auch mal einen Wälzer über die Historie des Schlosshofs geschrieben. Stimmt doch, oder? Wie wäre es, wenn du die Geschichte unserer Familie nebst Firma einmal zu Papier bringen würdest? Familiensaga oder so. Irgendwas Fettes wie die Buddenbrooks , verstehst du? Aber schön seriös. Soll ein Geschenk werden für die Belegschaft. Nächstes Jahr haben wir Hundertjähriges.“

Spontane Cleverness ist sonst nicht so mein Ding, aber in diesem Fall klappte es. „Never!“, sagte ich, und wenn ich mich recht entsinne sogar ziemlich laut, empört und mit unterdrückter Neugierde. Dennis ließ nicht locker: „Komm schon Alter, du brauchst doch ewig Geld. Wir lassen uns den Spaß dreißigtausend kosten, abzüglich Mietrückstände.“

Ahnt irgendjemand, was dreißigtausend für mich bedeuten? Meine Mutter wartete schon seit Jahren auf, ja Mensch, wie viel war das noch? Ich hatte kein Auto mehr (für den Führerschein hätte ich zur Nachschulung müssen), Ché-Daniel sollte in den Waldorf-Kindergarten, Hannas Vater hatte mir fünftausend geliehen und einige Lieferanten hofften auf Überweisungen.

Ich brüllte nochmal eindrucksvoll „Never!“ und stieß mich dabei vor Entsetzen vom Schanktresen weg nach hinten, um dann ganz langsam wieder in die alte Position zurückzugleiten. Dennis Pretorius hat keine vernünftigen Reaktionsmuster für solche Situationen. Anstatt sofort den Betrag zu erhöhen, grinste er nur wortlos. Folglich blieb es an mir hängen, eine verbale Reaktion in Gang zu bringen. Ich schüttelte langanhaltend den Kopf, bevor ich sagte: „Aber ich schreibe so, wie es mir passt. Keine Gefälligkeitsliteratur, verstehst du?“ Schlagartig beendete Dennis Pretorius darauf sein Grinsen und sagte: „Okay, aber dann sind nur zwanzig drin. Zwanzigtausend Euro, zweitausend Vorkasse, den Rest in Häppchen, je nach Fortschritt. Und alle Informationen kommen von mir! Ich erzähl’ dir die Geschichte, und du schreibst.“

Ich wiederholte mein Empörungsprogramm, und wir landeten endgültig bei fünfundzwanzigtausend. Wir verabredeten Orte und Zeiten, an denen wir uns treffen könnten und zu denen der Stoff zu mir rüberwachsen sollte. Zu mir! Warum ausgerechnet zu mir? Hanna behauptet, ich sei ein Freak mit schwersten Entwicklungsstörungen. Sie will mich erwachsener, aber ich schätze meine ewige Jugend, weshalb ich mich gegen alles wehre, was mir vereinnahmend vorkommt. Doch nun vereinnahmte mich ausgerechnet die Pretorius-Sippe mit ihrer großbürgerlichen Unternehmer- Vita. Nach dem ersten Treffen mit Dennis verfasste ich einen Probetext, der ihm sofort gefiel. Ohne ihm diese Passage zu zeigen, begann mein Originaltext so:

картинка 2

Der Junge Fabrikant fährt wie stets in rasantem Tempo den Hausberg hoch, um dann die letzten Meter zu laufen. Allein in diesem ersten Satz sind bereits drei Ungenauigkeiten zu bemängeln. Zunächst ist der Junge Fabrikant in Wirklichkeit schon ziemlich alt. Seinen Vater, der nun schon über dreißig Jahre tot ist, nannte man den Alten Fabrikanten. So wurde sein Sohn automatisch der Junge Fabrikant und blieb es auf Dauer. Der Sohn Dennis, also der Enkel des Alten Fabrikanten, wird sich diesen Titel nicht mehr verdienen, da er nicht wie Vater und Großvater die Geschäfte der Familie weiter betreiben wird. Dann muss man da- rauf hinweisen, weshalb es bei den Pretorius’ üblich ist, dem Hausberg seinen richtigen Namen zu verweigern. Der Hausberg ist der Ginsterberg. Da aber das Haus der Fabrikanten an oberster Stelle thront, spricht die Familie seit jeher von „ihrem“ Hausberg. Und zuletzt ist es falsch, den Eindruck zu vermitteln, der Junge Fabrikant sei allein deshalb den Hausberg hi- naufgefahren, um die letzten Meter zu laufen. Richtig ist es, darauf hinzuweisen, dass dem Fabrikanten der Wagen mit leerem Tank stehen bleibt und er laufen muss. Wütend! Keinen Blick für den wundervollen Sommertag, der die Luft angenehm erwärmt über die Haut streichen lässt.

Der Junge Fabrikant steht nach drei Stufen vor dem Portal des Hauses. Eine edle, aufwändig verzierte Holztür mit Seitenwangen. Besonders hervorstehende Ornamente sind mit Blattgold beschlagen, der Rest des schweren Eichenholzes ist wohlüberlegt rot gestrichen. Kein aggressives Rot, nicht wie Feuerwehr oder Ferrari, aber dennoch selbstbewusst strahlend und auffällig. Die Tür bekam ihre neue Farbe anlässlich des zehnten Todestages des Alten Fabrikanten. Ein Akt der nachtragenden Aufsässigkeit. Wenn der Schlüssel im Schloss steckt, beginnt normalerweise der Einsatz für Dutschke. Dutschke bellt dann wie Dutschke. Selbst die engsten Familienmit- glieder müssen seine Akustikattacken erdulden, wenngleich kürzer als Fremde. Heute ist Dutschke im Garten. Ein piekfeiner Retriever in sattem Schwarz. Der Junge Fabrikant hetzt die Stufen hoch, so schnell es die schlappe Kondition und das schwache Herz eben zulassen. Er muss in die dritte Etage, in sein Zimmer! Sein Zimmer, seit er denken kann. Früher eine Kinderhöhle, bunt und mit einem Teppich aus unaufgeräumten Lego-Steinen. Später dann eine coole Bude mit Elvis Presley in Petersburger Hängung. Heute ein Festival in Nussbaumholz. Allerfeinste Tischlerarbeit. Jeder Quadratzentimeter sinnvoll ausgefüllt mit Schränken, Regalen und einem üppigen Designer-Schreibtisch. Genau auf diesem Schreibtisch liegen Unterlagen, die der Fabrikant vergessen hat und die für die Besprechung in einer knappen halben Stunde wichtig sind. Er rafft die Papiere zusammen, schiebt sie hastig über- einander. Dann, im Umdrehen, noch ein kurzer Blick aus dem Fenster. In den Garten. Ein das Leben verändernder Blick, der nun länger und länger wird. Hinter einem wohl zwei Meter hohen Rhododendronbusch...

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