Zunächst nur ein paar Momente, dann von Tag zu Tag mehr Minuten. Küsse, Fummelei, Geflüster und Liebesschwüre ohne Ende. Und immer gibt es zum Abschied den kleinen Zettel mit ein paar Goethe-Worten. Ein Ritual seit dem Betriebsfest.
Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde! Es war getan fast eh gedacht. Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing die Nacht.
Samstag und Sonntag darf Marlene bei ihrer Freundin Emmy schlafen. Die Eltern haben ein Wochenendhaus am Dümmer. Emmy hat einen Fußballer von der Arminia , der schon eine eigene Wohnung besitzt. Und ein Auto. Emmy darf das Wochenende zum Ausgleich bei den Lendruscheits verbringen. Damit gibt es ein nahezu wasserdichtes Doppelalibi. Marlene und Manfred spielen zwei Tage Ehepaar. In Werthers Rucksack steckt ein ganzes Graubrot, eine Dose Rama -Margarine, ein Glas Erdbeermarmelade von Schwartau , ein Stummel Salami und eine Dreierpackung Ritex -Gefühlsecht. Nötig wäre eine Sechserpackung. Die beiden können einfach nicht voneinander lassen. Ständig fallen sie übereinander her und schaffen es, immer das Gleiche zu wollen, gesteuert von einer unsichtbaren, magischen Kraft. Dieses Mal fragt Manfred: „Heiratest du mich?“ „Ja! Ja! Ja!“ „Wann?“ „Warum nicht sofort?“ Die erste Liebe. Und dann auch noch eine fürs ganze Leben! Nicht einfach eine Schwärmerei, ein bloßes Ausprobieren oder eine Romanze. Hier haben zwei Menschen das Glück, den Richtigen für immer gleich beim ersten Mal gefunden zu haben. Mutter Lendruscheit sieht es ihrer Tochter Sonntagabend an. Marlene ist hundemüde, aber glücklich. Klammheimlich freut sich die Mutter für ihre Tochter – Vorhaltungen und Ermahnungen entsprechen daher einem vermeintlichen Pflichtprogramm. Aber Marlene kann punkten. Sie erzählt vom Gottesdienst in Damme und hat eine perfekte Nacherzählung der Predigt im Angebot. Fantasie hilft.
Manfred macht die ersten Beobachtungen, wenngleich er sie nicht zu deuten weiß. Er tastet Marlenes Brüste und freut sich darüber, dass sie eher gewachsen, ja sogar fester geworden sind. Auch in ihrem Schritt gibt es Bemerkenswertes. Beim Streicheln über ihre Schamlippen kommen ihm diese runder und praller vor. Die zarte Wölbung ihres Bauches bemerkt er nicht. Erstaunlicherweise Marlene auch nicht. Ausgerechnet in der Mathestunde kommt ein deutlicherer Hinweis. Marlene steht an der Tafel und soll eine Gleichung lösen. Differentialrechnung in der elften Klasse, für Marlene kein Problem. Aber auf einmal wird ihr schummerig vor Augen. Später wird sie es als „schwarz“ beschreiben. Die Knie werden weich und es bleibt keine Zeit, sich noch rechtzeitig am Lehrerpult abzustützen. Sie sackt zusammen und kommt erst wieder zu sich, als sie schon auf dem Stuhl des Lehrers sitzt. Zur Schau gestellt vor der Klasse. Man könnte vermuten: als eindringliche Warnung. Zuhause spricht Mutter Lendruscheit zum ersten Mal mit ihrer Tochter über ein Thema, welches nun als Aufklärung leider zu spät kommt. „Wann hattest du denn zuletzt deine Tage?“ Und dann: „Erbarmen! Herr im Himmel, sei bei uns, beschütze uns, lass’ es kein Kindchen sein. Allmächtiger, sei gnädig mit uns armen Sündern jiib uns Stärke, jiib Hoffnung!“ Fromme Wünsche, aber alle vergebens. Es bleiben nur Tränen, Kummer und die schiere Ausweglosigkeit. Die Mutter weint die Nacht hindurch. Marlene kann nur noch schluchzen und zittern. Am nächsten Morgen: „Welch Unglück bringst du über uns! Der Vater wird dich zur Hölle wünschen! Ein Balg, Erbarmung! Verdammnis! Fegefeuer! Du zerstörst unser Leben! Herr Jott nimm dich unserer an!“ Es ist ein Freitag. Morgen wird der Vater zu Besuch kommen. Marlenes Situation ist ausweglos. Ausgerechnet jetzt ist Manfred auf Klassenfahrt. Seine Zwölfte fährt mit der Dreizehnten zusammen nach Berlin. Manfred schreibt drei lange Briefe und schickt sie vereinbarungsgemäß an Emmy. Diese Briefe kommen an, aber erst dreiundvierzig Jahre später. Frau Lendruscheit holt ihren Mann vom Bahnhof ab. Sie will das Schlimmste verhindern und den zu erwartenden cholerischen Anfall abmildern. Trotzdem schlägt er zu. Marlenes Kopf taumelt von den Ohrfeigen hin und her. Als sich die Mutter dazwischenwirft, ergeht es ihr nicht anders. Sie bekommt ein blaues Auge und Marlene sämtliche Finger ihres Vaters als rote Striemen ins Gesicht gezeichnet. Zwei Tage wird im Hause Lendruscheit nur gebrüllt und geweint. Die totale Verzweiflung übernimmt die Macht und bestimmt das Handeln. Bei allen.
Das Firmenarchiv der Pretorius Filter- und Anlagenbau GmbH & Co. KG hatte lediglich einen wohlklingenden Namen. In Wirklichkeit war es ein staubiges Kabuff, keine zehn Quadratmeter groß. Den Schlüssel für die Kammer verwaltete eine unattraktive, lustlose Sekretärin. Dies ist übrigens ein sehr doppeldeutiger Hinweis, denn wie ich später erfuhr, gab es für diesen Job in der Firmenvergangenheit durchaus attraktive, der Lust sehr zugetane Damen. Davon später mehr. Mein erster Besuch im Archiv war eher die Vortäuschung aktiver Recherchen. Ich wollte Dennis beruhigen und konnte deshalb mein Glück kaum fassen, als die Beleuchtung streikte. Die ausgeleierte Neonröhre schaffte nur noch ein unregelmäßiges Aufflackern. Um nicht mit leeren Händen zu gehen, schnappte ich mir wahllos einen Ordner, gab den Schlüssel wieder ab und verschwand.
Umso anstrengender wurden die Treffen mit meinem Sportskameraden Pretorius. Ich quetschte ihn aus über Themen, auf die ich scharf war, während er immer wieder monologisierte und Sachen zum Besten gab, die mich nicht im Geringsten interessierten. Aber ich erschloss mir neue, unerwartete Informationsquellen, die ergiebig sprudelten. Heinrich von Zegenhagen, Stammgast schon zu Zeiten, als mein Vater noch hinterm Tresen stand, erschien eines Tages an meiner Theke. Er hatte mich mit Dennis Pretorius im Café Fritzenkötter gesehen und wollte nun wissen, was ich mit diesem Taugenichts zu tun hätte. Kaum erwähnte ich den Namen des Jungen Fabrikanten, sprudelte der Mann schon los. „Manfred Pretorius? Ach was, Werther haben wir den genannt. Der konnte zu jeder Situation ein Goethe-Zitat beisteuern. Alles auswendig! Und jede Menge Gedichte hatte der auf der Pfanne. Glaubt man nicht. So ’n junger Kerl. Einer von uns und dennoch irgendwie anders. Sensibler, würde ich heute sagen. Na, und dann ist der so abgestürzt. Hat nicht mal Abitur gemacht. Jedenfalls nicht mit uns. Schade, aber er soll sich ja gefangen haben, später dann. Wir hatten nie mehr Kontakt zu ihm. Er kam auch nicht zu Klassentreffen. Es hieß ja, er sei an Liebeskummer fast krepiert. Machste mir noch ein Herforder ?“
Montag früh erscheint der zu einem Umschulungskurs entsandte Pförtner Lendruscheit überraschend in der Firma. Grußlos und mit hochrotem Kopf läuft er an allen vorbei. Frau Zirpins sagt: „Da können Sie nicht rein!“ Doch, er kann. Er reißt die von innen mit Leder überzogene, schaumstoffgepolsterte Tür des Alten Fabrikanten auf und läuft auf dessen Schreibtisch zu. Mit geballten Fäusten presst er es hervor: „Ihr Sohn, das Schwein, hat meine Tochter geschwängert! Er hat aus ihr eine Hure gemacht!“ Mehr zu sagen gelingt ihm nicht. Sein am Sonntag eingeübter Text ist weg. Aber es ist auch nicht mehr nötig. Wilhelm Pretorius erfasst die Situation blitzschnell. Er steht auf und drückt auf die innere Deeskalationstaste, die er für Momente wie diesen zur Verfügung hat. „Mensch, Lendruscheit, das klären wir doch! Das klären wir wie Männer, was? Wir haben doch schon ganz andere Sachen durchgestanden, wie? Wir sind beide nicht vorm Iwan weggerannt. Und nun rennen wir auch nicht weg. Sie haben schon Ihr Bein verloren, da verlieren wir doch jetzt nicht auch noch den Kopf, was? Kommen Se, erst mal einen Weinbrand. Ach, was sag’ ich, einen Cognac natürlich. Und nicht irgendeinen, den besten, versteht sich. Komm, setzen Sie sich. Mensch, Lendruscheit, wir zwei, wäre doch gelacht, wenn wir da keinen Dreh reinkriegen. Kleinen Moment – Frau Zirpins, ich bin für niemanden zu sprechen, klar? Selbst wenn der Adenauer anruft, nicht durchstellen, keine Störungen, klar? So, Lendruscheit, nun besprechen wir das mal in Ruhe. Hier, trinken Sie. Prost! Auf uns!“
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