Frustrierend war allerdings, dass er doch nur die erreichte, die schon seiner Meinung waren. Absurderweise war auch das ein Problem, das zu Beginn des Jahrhunderts bereits bestanden hatte und mit dem etwas kindischen Begriff der »Filterblase« belegt worden war. Wie heute wurde auch damals die Kritik genau von den Feinden der Freiheit für ihre eigenen Ziele verwendet. Sie behaupteten einfach, ihre Gegner hätten keine Ahnung von der Wirklichkeit, da sie sich ja eh nur in ihren Filterblasen tummeln würden. Die Kritiker seien noch jung und dumm und mögen die Beurteilung doch besser Leuten überlassen, die sich damit auskannten, worunter sie natürlich sich selbst und ihre mit zweifelhaften akademischen Graden geschmückten Hofschranzen meinten. Silver fühlte sich wie im Hamsterrad.
»Ich brauche wieder Zeit für meine Fregatte«, sagte er zu seinem Papagei. »So werde ich zur Landratte.«
Eine Woche nach dem Inkrafttreten des Sperrgesetzes traf eine Mail bei Silver ein.
»Eine echte E-Mail! Von einem Unbekannten!«, staunte Silver und ließ seinen Papagei sich ungläubig vorlehnen. »Kein Mensch versendet heutzutage noch Mails! Außer denen, die nicht beobachtet werden wollen …«
Er sah sich den Kopfsatz der Mail an. Zum zweiten Mal am heutigen Tage staunte er. Der Absender lautete attack@13.ntz.
»Dreizehn! Jetzt sag mir einer, dass das ein Zufall sein soll!«
Atemlos öffnete Silver die Mail. Es war ein wirres Geschreibsel, als habe jemand Chinesisch mit einem besonders billigen Onlineübersetzer ins Finnische übertragen und dann ins Deutsche.
»Meine Finger werden taub« lautete die naheliegendste, aber sinnlos wirkende Deutung. Unterzeichnet war die Mail mit »Anonymous 13«. Eine lange Liste mit Internetadressen folgte.
Silver fand Krankenhäuser, Banken, Babybreihersteller, aber auch Satellitenkraftwerke und militärische Einrichtungen: Anmeldedaten samt Verifikationen von Datenbanken und Servern, für die Hacker ihren rechten Arm gegeben hätten.
Silver war beeindruckt. Und er wunderte sich. Warum sollte jemand, der so eine Liste zusammenstellen konnte, seine Dienste benötigen?
»Weil du ihn mit deinem Angriff beeindruckt hast, du toller Hecht«, ließ Silver seinen Papagei krächzen.
»Und woher kennt er mich als Urheber?«
»Du bist halt nicht perfekt, Käpten.«
»Ach was. Und die Dreizehn? Woher bitte weiß er von der Dreizehn?«
»Ich glaube, du brauchst frische Luft. Am besten … nicht ganz so frische Luft, aber dafür geschwängert mit elektromagnetischen Emissionen, Lötkolbendunst und Lösungsmitteln.«
»Was?«
»Du brauchst Rat. Hol ihn dir.«
»He, du!«
Silver drehte sich um. Mitten im Kellergang des Retroclubs Abgestürzte Raumstation stand, unvorteilhaft ausgeleuchtet vom Flackerlicht der Dioden und schwachschimmernden Leuchtkabel, ein rundlicher Kerl mit schütterem Spitzbart. Über seinen massigen Leib spannte sich ein Shirt, das nach einer Waschmaschine geradezu schrie. Er war so was von Nerd-aus-zweitausend, dass er gut und gern mit dem Inventar hätte verwechselt werden können. Aus den verborgenen Lautsprechern der Anlage gluckerte die Klangkulisse eines Science-Fiction-Horrorklassikers.
»Wer bist du eigentlich?«, fuhr er Silver an. »Du kommst hier rein, als gehöre dir der Laden! Das ist nur für Members hier!«
Silver sah den Papagei auf seiner Schulter an. »Er fragt, wo wir hinwollen.«
»Hat er gefragt, ja«, ließ er sein Plüschtier erwidern.
Von oben herab sagte er zu dem erregten Kerl: »Ich will zu iFrank.«
Der Tonfall seines Gegenübers wurde noch aggressiver. »Das ist mir egal, hier dürfen keine Aliens rein! Aber du, du spazierst einfach so hier herunter, erst in die Werkstatt drüben, dann zum Chillcenter!«
Silver benannte die Erscheinung für sich erst einmal als Rumpelstilzchen.
»Erklären wir’s ihm?«, fragte er seinen Papagei.
»Jaja«, ließ er ihn antworten.
Silver seufzte. »Erst hatte ich oben an der Bar gefragt, wo iFrank ist, die haben mich in die Member Area geschickt, und die Kartenzocker da hinten am Tisch sagten Werkstatt. Der Typ in der Werkstatt sagte, iFrank ist im Chillcenter. Gut? Darf ich jetzt iFrank suchen oder willst du ihn mir vor die Tür schicken? Das fände er bestimmt ganz toll.«
Rumpelstilzchen sah ihn mit einem mörderischen Blick an und machte auf dem Absatz kehrt.
Der Papagei ruckelte. »Dem hast du’s aber gegeben.«
»Halt den Schnabel.«
Die Atmosphäre im Chillcenter war überwältigend. Überall tanzten rote und grüne LEDs im Dunkel, hingen Paneele mit Schaltern und glimmenden Energiekanälen, und die Geräusche aus den Projektionslautsprechern ließen glauben, dass man sich wirklich in einer abgestürzten Raumstation befand. In der Kommunikationsdyadennische glomm Konzentration von Gamern hinter echten Monitoren. Einige der Bildschirme waren tot, weil sich die Nutzer das Bild von ihren 3-D-Implantaten in ihrem Kopf darauf projizieren ließen.
»Haaay, Käpten«, hauchte ein schmales Gesicht hinter einem Bildschirm.
»Hi, iFrank! Was treibst du?«
»Ach, Raumschiffe abschießen.« iFrank, lebende Legende als Mitbegründer des Clubs Abgestürzte Raumstation , pausierte das Spiel. »Mensch, warst du das vor sechs Monaten?«
»Er fragt, ob wir das waren«, sagte Silver zu seinem Plüschpapagei.
»Wüsste er wohl gerne!«, krächzte das Stofftier.
iFrank verstand. »Komm mit, da hinten sind wir alleine.«
Sie betraten eine Bastelwerkstatt, in der sich Kabel, Teile von technischem Gerät, Monitore aus jeder Ära, Drähte, Lötkolben, Panzerklebeband, Pattex- und Sauerkrautdosen stapelten. Eine Feuerschutztür verwandelte den Raum in ein perfektes Besprechungszimmer. Vorausgesetzt, man fand irgendwo einen Platz zum Sitzen.
Silver erzählte ihm von seiner Begegnung der dritten Art im Kellergang.
»Ach der, vergiss den. Rumpelstilzchen! Ja, das trifft es gut. Ist nur irgend so ein Wichtigtuer. Hat bestimmt extrem bedeutende Funktionen in diesem Club inne, frag mich nicht, welche. So, Tür zu. – Also, warst du das wirklich mit dem Super-DDoS? Also echt, mit einem DDoS, das ist echt so was von zweitausend, Mann! Damit hast du so ziemlich die ganze Top Ten der Internetfirmen abgeschossen? Die führen gerade einen neuen Namen für die Attacke ein, weißt du das? Dafür kommst du ins Hackerpantheon, sag ich dir!«
»Und in den Knast, wenn’s jemand erfährt«, sagte Silver. »Deswegen: Nein, das waren bestimmt die Chinesen. Oder so.«
»Frag ihn, Silver«, krächzte Silvers Papagei.
»Sagemal, bei dem, was ich definitiv nicht gemacht habe, da lief alles toll, so geschmiert wie noch nie – hat einer mir erzählt, klar. Aber ein Ziel, das blieb bis zuletzt grün. Das mit der Nummer dreizehn, lustigerweise.«
»Und?«
»Zeigte keinerlei Schwankungen, keine Abwehr. Aber jetzt kommt’s. Heute bekam ich eine Mail …« Während er erzählte, schrieb er Ziffernfolgen auf einen Fetzen Papier. »Hier ist die Adresse von dem obskuren Anonymisierer, über den die Mail lief.«
»Mach das weg«, ließ er seinen Plüschpapagei krächzen.
»Eine … Mail? Okay …« iFrank starrte den Zettel an, als wolle er ihn mit den Augen ablasern. Was bei jedem anderen tatsächlich auch der Fall hätte sein können. Aber iFrank lehnte Implantate ab und vertraute seinem Biorechner namens Gehirn.
»Eingeschärft?«, fragte Silver. iFrank nickte. Daraufhin zerriss Silver die Notiz in winzige Fetzen.
»Hmhm. Ich guck mal«, versprach iFrank. »Die Angriffsroutinen?«
»Handbuch, plus unsere verschlüsselten Zusatzsprengköpfe. Du bist der Einzige, der genug darüber weiß, um das beurteilen zu können.«
iFrank kratzte sich am Bart. »Brauche dann noch ein paar Details. Sehr schräg. Auch dein Erfolg damit … Mensch, sieh dich vor.«
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