C’est la vie
Unterwegs mit zwei Pionieren der Palliative Care
Rebekka Haefeli
Wie dieses Buch entstand
Roland Kunz
Auf der Palliativstation: Tag 1
Persönliche Erfahrungen mit Krankheit und Tod
Auf der Palliativstation: Tag 2
Das Sterben rückt in den Fokus
Auf der Palliativstation: Tag 3
Was ist ein guter Abschied?
Das Ende akzeptieren – Gespräch mit einer Patientin
Entwicklung der Palliative Care
Corona, Aids und der Tod
Sterbebegleitung damals und heute
Dynamik in der Schweizer Palliative Care
Eva Bergsträsser
Wenn Kinder sterben
Debora, Ronja und Attila
Aufbauarbeit am Kinderspital
Austausch im Team
Auf Visite im Kinderspital
Wissen weitergeben
Bilanz
Bewusstes Leben, bewusstes Sterben
Anmerkungen
Dank
Autorin
Das Schreiben ist mir selten so leichtgefallen. Und doch hat mich die Arbeit an diesem Buch aufgewühlt. Vieles, was ich zuvor als selbstverständlich empfunden hatte, stellte ich plötzlich infrage. Während der Recherchen habe ich viel gelesen: Peter Nolls «Diktate über Sterben und Tod», «Mars» von Fritz Zorn, «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!» von Christoph Schlingensief, «Über das Sterben» von Gian Domenico Borasio oder auch «Interviews mit Sterbenden» der bekannten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross.
Einige dieser Werke hatte ich vor vielen Jahren schon einmal gelesen, und sie haben mich erneut beeindruckt. Bislang unbekannt war mir der Bestseller «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» der Australierin Bronnie Ware, die als Pflegerin viele Menschen in den Tod begleitet hatte. Ein Abschnitt hat sich mir besonders eingeprägt: «Wenn wir fähig sind, unseren unvermeidlichen Tod aufrichtig anzunehmen, bevor unsere Zeit gekommen ist, können wir unsere Prioritäten verlagern, bevor es zu spät ist. Das gibt uns die Chance, unsere Energien auf Dinge zu verwenden, die die Mühe wirklich wert sind. Sobald wir uns klargemacht haben, wie begrenzt die Zeit ist, die uns noch zur Verfügung steht – auch wenn wir nicht wissen, ob es Jahre, Wochen oder Stunden sind –, werden wir nicht mehr so stark von unserem Ego angetrieben oder von der Meinung anderer Leute über uns. Stattdessen steuern wir auf das zu, was unser Herz wirklich will. Dieses Anerkennen unseres unvermeidlichen, immer näher rückenden Todes gibt uns die Chance, viel mehr Sinn und Befriedigung in der Zeit zu finden, die uns noch bleibt.»
Der Tod ist in unserer Gesellschaft noch immer mit vielen Tabus behaftet und mit vielen Ängsten besetzt. Im Zuge der Corona-Pandemie rückte er zumindest vorübergehend etwas stärker in die Öffentlichkeit. Das Sterben wurde für viele plötzlich sichtbar. Die Pandemie mag manche und manchen dazu bewogen haben, sich mit dem eigenen Tod und dem seiner Liebsten auseinanderzusetzen. Mich überzeugt die Haltung, dass das Leben im Bewusstsein des Todes erfüllter sein kann.
Konkret ins Auge fasste ich dieses Buchprojekt, als ich Roland Kunz kennenlernte. Er ist Arzt, Palliativmediziner und Pionier der Palliative Care in der Schweiz. In dieser Funktion begegnet er täglich unheilbar kranken oder sterbenden Menschen. Im Herbst 2019 führte ich ein Interview für die Neue Zürcher Zeitung mit ihm, in dem er erklärte, für fast alle Menschen komme der Zeitpunkt zum Sterben zu früh. «Sie sagen sich: ‹Ja, wir müssen alle sterben. Aber doch noch nicht jetzt.›» 1Kunz führte weiter aus: «Meiner Erfahrung nach ist es ein kleiner Teil, der die Reife besitzt, am Ende des Lebens ein halb volles Glas zu sehen und nicht ein halb leeres. Die meisten denken darüber nach, was sie noch alles hätten machen wollen, und es jetzt nicht mehr können. Unsere Aufgabe ist es auch, den Blick für das zu schärfen, was die Menschen in ihrem Leben erreicht haben.»
Roland Kunz’ Ziel ist es, die Lebensqualität seiner Patientinnen und Patienten so lange wie möglich zu erhalten, ohne die Verlängerung des Lebens an die erste Stelle zu setzen. Dazu braucht es wirksame Schmerztherapien, aber auch psychologische, spirituelle und soziale Unterstützung, die auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnitten sind. Dafür steht er seit mehreren Jahrzehnten ein.
Genauso engagiert in der Palliative Care wie Roland Kunz ist Eva Bergsträsser. Die Ärztin am Kinderspital Zürich ist die Pionierin der Palliative Care für Kinder in der Schweiz. Seit vielen Jahren setzt sie sich für die Lebensqualität von schwer kranken Kindern ein und stellt wie Roland Kunz ihre Expertise in den entsprechenden Fachorganisationen zur Verfügung. Täglich ist sie mit der immer wieder unfassbaren Tatsache konfrontiert, dass Kinder vor dem Tod stehen, die eigentlich ein volles Leben vor sich haben müssten. Es widerspricht dem scheinbar «natürlichen» Lauf der Dinge, wenn Kinder vor ihren Eltern sterben. Das Familiengefüge – oftmals erweitert durch Freundinnen und Freunde sowie nahe Angehörige wie die Grosseltern – wird in jedem dieser Fälle nachhaltig erschüttert.
Schwerpunkte setzen sowohl Bergsträsser als auch Kunz bei ihrer Arbeit nicht nur bei den Erkrankten, sondern auch bei deren Angehörigen – bei Eltern, Freunden, Bekannten und letztlich bei allen, die bereit sind, die Augen vor einer Diagnose und vor dem Lebensende nicht zu verschliessen.
Dieses Buch richtet den Fokus einerseits auf die Leistung der Palliative-Care-Pioniere Eva Bergsträsser und Roland Kunz. Ich habe sie in ihrem Klinikalltag begleitet, und ich habe mit beiden viele lange Gespräche geführt. Seit Kurzem ist Roland Kunz pensioniert.
Eingebettet werden diese Reportagen in den grösseren Zusammenhang der Geschichte der Palliative Care bei Kindern und Erwachsenen. Bei alldem geht es ums Kranksein, ums Sterben und um den Tod. Es geht aber auch darum, wie es gelingt, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen.
Für mich ist dieses Buch ein Versuch, dem Geheimnis, was wirklich wichtig ist im Leben, auf die Spur zu kommen. Es wäre schön, wenn es andere Menschen zum Nachdenken über diese existenzielle Frage ermutigen würde.
Roland Kunz
Auf der Palliativstation: Tag 1
Jeder Mensch lebt anders, und jeder Mensch stirbt anders. Jeder Sterbeprozess verläuft in dieser geheimnisvollen Sphäre, in die wir als Zuschauende, als Beobachtende, als Ärztinnen und Ärzte, als Pflegefachpersonen oder als trauernde Angehörige nie wirklich Einblick erhalten – bis zu dem Tag, an dem wir selbst sterben.
An dem sonnigen Dienstag, als diese Zeilen entstehen, erinnert vordergründig nichts an den Tod. Das Leben geht für die meisten Menschen seinen gewohnten Gang, ohne grössere Aufregungen oder Zwischenfälle. Auf der Rosengartenstrasse in Zürich, einer der meist befahrenen Strassen der Schweiz, stauen sich schon morgens die Autos und die Lastwagen. Am Bucheggplatz eilen Berufstätige aufs Tram; Studenten mit vollgepackten Rucksäcken drängen in den Bus, der zur ETH Hönggerberg hoch über der Stadt fährt. Von hier wirken selbst die Kirchen der Altstadt winzig klein. Nach wenigen Minuten hält der Bus beim Stadtspital Zürich Waid, einem verwinkelten, trotz seiner Grösse eigenartig unscheinbaren Gebäudekomplex aus den 1950er-Jahren. Hier gehört, neben den üblichen, breit gefächerten medizinischen Leistungen, auch das Sterben zum Spitalalltag.
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