Einleitung
Augusta Thelers Spitalalltag
Spätdienst
Unerwartete Komplikationen
Magie und Schrecken der Geburt
Eine Grossfamilie im Wallis
Kindheit in einfachen Verhältnissen
Stürmische Schul- und Lehrjahre
Einsatz rund um die Welt
Mit dem Auslandsvirus infiziert
Allein in Eritrea
Im Flüchtlingscamp in Kamerun
Einsatz in Haiti
Cholera in der Karibik
Anna Heynen, Grossmutter und Dorfhebamme
Hände, so zart wie Samt
Unterwegs bei Nacht und Nebel
Ein Bergdorf im Wandel
Illegale Vorgänge im «Negerdorf»
Es geht jetzt himmelwärts
Aspekte zur Entwicklung des Hebammenwesens
Lehrbuchwissen für Geburtshelferinnen
Die ersten Hebammenkurse im Wallis
Strenges Regime an der Hebammenschule in Genf . .
Hungerlöhne und Einflussverlust im Wallis
Der Kampf um Anerkennung
Schwangerschaftsabbruch und Verhütung
Genfer Hebammen und der Verdacht auf Abtreibungen
«Fruchtverhütung» in den 1920er-Jahren
Die Geburt als Spiegel der Zeit
Ein Kaiserschnitt vor mehr als 100 Jahren
Von der Haus- zur Spitalgeburt
Einsatz nach dem Erdbeben in Nepal
Hoffnung nach der Katastrophe
Rückkehr in die Zerstörung
Die Welt ist klein
Kräuter, Salben und Essenzen
Auf Hausbesuch
Nachwort
Anmerkungen
Autorin
Was hat man Ihnen über Ihre Geburt erzählt? War Ihre Mutter im Kino, bei der Arbeit oder am Kochen, als die Wehen einsetzten? Wissen Sie, wer bei der Geburt dabei war? Ihr Vater oder eine gute Freundin Ihrer Mutter? Ein Arzt, eine Ärztin, eine Hebamme? Die meisten von uns wissen es nicht so genau. Allenfalls erinnert man sich an Schilderungen der Eltern, wie die Geburt verlaufen ist: kurz und heftig, unter ungeheuerlichen Schmerzen, hektisch, langwierig, nervenaufreibend, kompliziert, schwierig und angstvoll – oder schnell, einfach und sanft. Vielleicht hat man Ihnen erzählt, dass Sie im Gebärsaal eines Spitals zur Welt kamen oder durch einen Kaiserschnitt in einem Operationssaal; vielleicht in einem Geburtshaus oder bei einer Hausgeburt daheim. Egal, was und wie viel man über die eigene Geburt mitbekommen hat: Wenn man ein Kind ist, bleibt sie ein Rätsel. Das kindliche Vorstellungsvermögen reicht nicht aus, um sich auszumalen, wie man im Bauch der Mutter zu einem lebensfähigen Wesen heranwächst. Und erst recht unvorstellbar bleibt, wie man nach neun Monaten aus diesem kugelrunden Bauch geschlüpft sein soll.
Spätestens als Erwachsener weiss man: Die Geburt ist kein Rätsel. Eine Geburt gehört wie die Liebe und die Schwangerschaft zu den natürlichsten Sachen der Welt. Milliarden von Frauen haben geboren. Jährlich kommen 83 Millionen Kinder zur Welt, 159 pro Minute, mehr als zwei pro Sekunde. Dennoch ist jede Geburt ein Ausnahmezustand und ein magischer Moment – für die Mutter, für das Kind, für Hebammen, Ärztinnen, Ärzte und Angehörige, welche die Gebärende bei diesem Akt unterstützen. Seit alters waren es vor allem Frauen, die anderen Frauen bei der Geburt halfen. Daraus entstand der Beruf der Hebamme, schlecht entlohnt, anspruchsvoll, bewundert, aber auch Vorurteilen und Ängsten ausgesetzt.
Hebamme ist einer der ältesten Frauenberufe der Welt. Die Geschichte der Hebammen ist ein Teil der Frauengeschichte. Hebammenverordnungen kennt man seit dem Mittelalter. Ab dem 16. Jahrhundert begannen in der Schweiz einzelne Städte Hebammen anzustellen, sie wurden vereidigt und erhielten eine Pension. 1Um die Ausbildung kümmerte man sich ab Mitte des 16. Jahrhunderts, aber das waren meist punktuelle Ansätze. In der Mehrheit handelte es sich bei den Hebammen um ältere Frauen, die selbst geboren hatten, oftmals Analphabetinnen waren und vor allem wegen ihrer Erfahrung bei Geburten halfen. Eine stetige Professionalisierung setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Nun rekrutierte man jüngere Frauen, die lesen und schreiben konnten, und in den meisten Kantonen wurden dreimonatige Kurse angeboten, die Ende des 19. Jahrhunderts auf neun bis zwölf Monate verlängert wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es ein halbes Dutzend Hebammenschulen in der Schweiz, und auch anschliessend entwickelte sich das Hebammenwesen laufend weiter.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die Spitalgeburten zu dominieren, und eine immer stärkere Bedeutung der Ärzte machte die Hebamme mehr und mehr zur untergeordneten Hilfskraft. Die Weiterentwicklung des Hebammenberufs führt mit der Akademisierung in der ganzen Schweiz seit 2008 bis in die Gegenwart: Heute braucht es eine Matura für den Abschluss Bachelor of Science Hebamme an einer der vier Fachhochschulen in Genf, Bern, Lausanne oder Winterthur. Die Ausbildung steht selbstverständlich auch Männern offen. Da ist es nur folgerichtig, dass es in der Schweiz mittlerweile auch ein paar wenige männliche Hebammen gibt.
Ist Gebären immer noch die natürlichste Sache der Welt, wenn 2015 in der Schweiz fast 98 Prozent der Babys in einem Spital zur Welt kamen und ein Drittel davon per Kaiserschnitt? Ein Kind zu bekommen, ist heute in unserem Land ein von viel moderner Technik begleiteter Prozess, in dem kaum mehr etwas dem Zufall überlassen und kein Risiko eingegangen wird; weitgehend sicher für Mutter und Kind. Doch es gibt viele Ecken dieser Welt, in denen Kinder unter anderen Umständen geboren werden. Geburten ohne Ultraschalluntersuchungen, ohne Anästhesien und unter prekären sozialen und hygienischen Bedingungen.
Angesichts des medizinischen Fortschritts geht leicht vergessen, dass auch in der ländlichen Schweiz vor noch nicht allzu langer Zeit vorwiegend zu Hause und nicht im Spital geboren wurde, es keine Verhütungsmittel gab, Frauen zehn und mehr Kinder gebaren, die Gefahr bestand, im Kindbett zu sterben, und Kaiserschnitte nur im äussersten Notfall und ohne Narkose durchgeführt wurden. Eine andere Welt, eine andere Zeit – und sie ist gerade mal gut 100 Jahre her.
Hebamme Augusta Theler, von der das Buch handelt, sind diese Unterschiede sehr bewusst. Einerseits, weil ihre Grossmutter mütterlicherseits, Anna Heynen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hebamme im Walliser Dorf Ausserberg war; und anderseits, weil sie neben ihrer wohlgeordneten Arbeit im Spital Thun, wo sie umgeben ist von moderner Technik, genügend Medikamenten und einem qualifizierten Team, Notfalleinsätze in Krisengebieten im Ausland leistet. So erlebt sie, wie in Kamerun ein Zwilling bei über 40 Grad Celsius Hitze wenige Tage nach der Geburt wegen mangelnder Flüssigkeitsversorgung stirbt, und dann, in Thun, wie ein Kind bei gedämpftem Licht in komfortabler Umgebung im warmen Wasser geboren wird.
Die Spanne zwischen den Welten, in denen sich Augusta Theler bewegt, ist gross. Die Verarbeitung des im Ausland Erlebten fällt nicht immer leicht, aber sie nimmt von ihren Einsätzen vieles mit. Sie lernt dazu und ist sich der schnellen medizinischen Entwicklung seit der Zeit, als ihre Grossmutter Hebamme war, bewusst. In diesem Spannungsfeld zwischen moderner Geburtshilfe in der Schweiz, Einsätzen in den Krisenregionen der Welt und dem Blick in die Vergangenheit bewegt sich die folgende Geschichte.
Augusta Thelers Spitalalltag
Im Spital Thun kommen durchschnittlich drei Kinder pro Tag zur Welt; 2016 zählte man über 1000 Neugeborene. Und obschon sich die Geburtshilfe in den letzten 100 Jahren stark entwickelt hat, kann man nicht wissen, wie jede einzelne Geburt ausgeht. Jede Schwangerschaft und jede Geburt verläuft in jener geheimnisvollen Sphäre zwischen Leben und Tod, die als zauberhaft in Erinnerung bleibt, wenn alles gut gegangen ist. Umso schlimmer ist es, wenn sich Lebensträume zerschlagen, wenn Schmerzen und Enttäuschungen verkraftet werden müssen, wenn Glück zerrinnt. Augusta Theler weiss, dass Schwangerschaften und Geburten mit vielen Unwägbarkeiten verbunden sind – auch in unserer Zeit und in unseren Breitengraden, wo die Medizin so viele Möglichkeiten bietet wie nie zuvor und wo durch intensive Forschung laufend Fortschritte gemacht werden. Dennoch wird die Tätigkeit der Hebamme nie zur Routine. Nie verläuft eine Geburt genau gleich wie eine andere, denn nicht der Mensch, sondern die Natur gibt den Takt an. Augusta Theler sagt, dieses Bewusstsein rufe bei ihr auch nach vielen Jahren der Erfahrung eine gewisse Anspannung hervor. Jedes Mal begibt sie sich in eine Situation, in der sie nicht weiss, was auf sie zukommt und was passieren wird.
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