Die Frau trägt jetzt eine Art Stoffgurt mit Sensoren um den Bauch. Die Herztöne des Kinds und die Wehentätigkeit werden laufend auf einen Papierstreifen aufgezeichnet. «Das Baby macht es gut, alles im grünen Bereich», hält Augusta Theler fest, setzt sich auf den Bettrand, nimmt die Lesebrille zur Hand und notiert die Ergebnisse ihrer Untersuchung. «Wir warten einfach ab», sagt sie zu den Eltern, die keine Spur von Nervosität zeigen. «Noch sind die Wehen schwach, aber da Sie einen Blasensprung hatten, ist klar: Sie bleiben bei uns.»
Die Hebamme lässt die beiden allein und geht ins Stationszimmer, um sich dort mit der Assistenzärztin zu besprechen. Zusammen kehren sie zurück zum Paar. Da sich die Frau eine Wassergeburt wünscht, kommt eine PDA nicht infrage. Auch starke Schmerzmedikamente, intravenös verabreicht, werden bei einer Geburt in der Badewanne aus Sicherheitsgründen zurückhaltend eingesetzt. Augusta Theler schlägt vor, falls nötig Lachgas zu verwenden. «Sie atmen das Gasgemisch über eine Gesichtsmaske aus Kunststoff ein, die Sie selbst halten», erklärt sie. «Mir haben Frauen gesagt, allein das Halten der Maske habe ihnen während der Geburt geholfen. Und das Lachgas besitzt die Eigenschaft, die Spitze des Schmerzes etwas abzudämpfen.»
Dann geht plötzlich alles sehr schnell. Die Frau verspürt nun Wehen in immer kürzeren Abständen. Die Hebamme versucht, einen Venenkatheter an ihrem Handrücken zu platzieren. Sie muss die Handlung unterbrechen, als eine weitere Wehe die schwangere Frau erreicht. Sie wimmert, der Schmerz wird schlimmer. Es ist höchste Zeit, ins Gebärzimmer zu wechseln.
Eine Stunde nach Eintreffen im Spital liegt die Frau nun, nur noch mit einem T-Shirt bekleidet, im Wasser in der Wanne. Ihre übrigen Kleider sind mit den Schuhen auf einem Haufen am Boden gelandet. Es musste schnell gehen. Eine Lichterkette bringt etwas Helligkeit in den abgedunkelten Raum mit der dunkelrot gestrichenen Wand. Die Vorhänge sind zugezogen, draussen ist es dunkel. Eine Zeitlang ist nichts als das Schnaufen der Frau zu hören. «Schön in den Schmerz atmen.» Augusta Theler wendet sich der Gebärenden zu und spricht mit leiser Stimme. Sie hat sich Gummihandschuhe übergestreift und beugt sich auf der linken Seite über die Wanne. Der Mann befindet sich am Kopfende. «Aber Sie geben mir dann schon noch etwas gegen diese Schmerzen», bittet die werdende Mutter, als sie die nächste Wehe spürt. Die Hebamme reicht ihr die Gesichtsmaske für das Lachgas und fordert sie auf, tief einzuatmen. Erst als sich der Schmerz wieder verzogen hat, geht Augusta Theler zum Lavabo in den anderen Teil des geräumigen Gebärsaals und befeuchtet einen weissen Waschlappen mit kaltem Wasser. Damit kehrt sie zurück zur Gebärenden und legt ihn ihr auf die Stirn. «Ich bin ein wenig geflasht», stellt die Frau fest, bevor sie erneut nach der Gesichtsmaske greift. Die nächste Wehe setzt ein.
Augusta Theler wirkt ganz ruhig, aber voll konzentriert. Sie spricht nun eindringlich zu der Frau: «Wenn das Baby kommt, bleiben Sie mit dem Becken schön unten», sagt sie. «Versuchen Sie, das Kind hinauszuschnaufen und nur vorsichtig mitzuschieben. Wir schaffen das zusammen.» Die Hebamme möchte einen Dammriss vermeiden. In der letzten Phase wird sie den Kopf des Kinds während der Wehen mit den Fingern zurückhalten. Mit geübten Handgriffen wird sie ihn so führen, dass die Geburt für Mutter und Kind möglichst sanft und schadlos erfolgen kann.
Aus der Wanne ist ein schnorchelndes Geräusch zu hören. Der Atem der Gebärenden geht schneller. «Das Baby kommt», kommentiert Augusta Theler und fragt: «Wollen Sie mit dem Finger selbst spüren, wo das Köpfchen ist?» «Nein», antwortet die Frau, sie merke, dass es gleich so weit sei. Die Hebamme beugt sich nun tief zum Kopf der Gebärenden hinunter. Der Sekundenzeiger der Uhr, die an der Wand über der Türe hängt, scheint über die Stunden- und Minutenanzeige zu schleichen. «Die nächste Wehe kommt. Volle Konzentration. Ja, sehr gut, schieben Sie mit. Es ist gleich so weit.»
Die Frau gibt sich ihrem Schmerz nun hin, schreit ihn aus sich heraus. Jetzt steht auch die Ärztin am Rand der Wanne. Die Gebärende atmet lange und tief aus. Die Gynäkologin dreht ihren Kopf zum Gerät, das noch immer die Herztöne des Kinds aufzeichnet. Alles in Ordnung, sagt ihr Blick. Während sie die Wehen wie Wellen überfluten, packt die Frau den Arm der Hebamme mit aller Kraft und hält sich wie eine Ertrinkende daran fest. «Es tut so weh!», schreit sie. Augusta Thelers Gesichtszüge sind härter geworden, ihre braunen Augen glänzen wie zwei dunkle Punkte. In einem strengen Tonfall, aber voller Zuversicht sagt sie: «Wir müssen da durch. Schon bald haben Sie es geschafft. Tief atmen. Das Köpfchen kommt. Sehr gut!»
Die letzten Minuten und Sekunden sind voller Dramatik. Der Mann, der während der ganzen Zeit die Hand seiner Frau gehalten hatte, bleibt mäuschenstill. Nur seine Gesichtsmuskeln sind aufs Äusserste angespannt. Sie verraten, wie ihm zumute ist. Eine Presswehe noch, ein Schmerzenslaut der Frau, dann ist mit einem Mal das Baby da. Augusta Theler hebt es sofort aus dem Wasser, legt es der Mutter auf die Brust und deckt es mit einem Tuch zu. Das Kind – es ist ein Knabe – beginnt zu weinen, ein gutes Zeichen. «Hallo du! Schön bist du da!» Es ist 21.20 Uhr. Die Mutter begrüsst ihr Neugeborenes.
Noch während die Frau im Wasser liegt, nabelt die Hebamme das Baby ab. Die Mutter erhält eine Infusion mit einem Wehenmittel, um die Ablösung der Nachgeburt voranzutreiben. Im Gebärsaal bleibt es einige Minuten andächtig ruhig. Mutter und Vater betrachten stumm den Kleinen, der nun ganz still daliegt. Die Hebamme wickelt das Baby in ein warmes Tuch ein, zieht ihm ein gestricktes Mützchen an und übergibt es dem Vater. Dann hilft sie der Mutter, aus der Wanne zu steigen, hüllt sie ebenfalls in ein frisches Tuch, führt sie hinüber zum Bett und deckt sie zu. Noch fehlt die Nachgeburt; die Plazenta, der Mutterkuchen, sollte austreten. Die Hebamme drückt der Frau leicht auf den Bauch und fordert sie auf zu husten. Derweil hört man das Baby, das in den Armen des Vaters liegt, zufrieden schmatzen. Die Plazenta ist nun da, allerdings ohne die Eihäute, die das Baby in der Gebärmutter umhüllt und die Fruchtblase gebildet hatten. In der Regel werden diese mit der Plazenta ausgestossen. In diesem Fall sind aber vorerst nur Fetzen der Eihaut vorhanden.
Die Ärztin holt aus einem Schrank sterile Klemmen. «Es blutet, wir müssen uns etwas beeilen», sagt Augusta Theler ruhig, aber bestimmt. «Wir müssen schauen, dass nichts mehr zurückbleibt.» Mit den sterilen Klemmen versuchen Ärztin und Hebamme, die fehlenden Teile der Eihäute aus dem Gebärmutterhals zu holen. Bleiben Teile des Mutterkuchens oder der Eihäute zurück, so kann es zu Blutungen kommen. Als anzunehmen ist, dass keine Reste in der Gebärmutter verblieben sind, kontrollieren Ärztin und Hebamme gemeinsam den Damm der jungen Mutter. Da es aus der Vagina leicht blutet, platzieren sie dort einen sterilen Tupfer mit einem Lokalanästhetikum. Der Damm ist unversehrt geblieben. Die Mutter, die nach der unangenehmen Prozedur um die Eihaut fröstelt, wird mit einem weiteren warmen Tuch zugedeckt.
Erst jetzt findet Augusta Theler Zeit und Ruhe, um den Eltern zu gratulieren. Dann lässt sie die drei allein. Die Plazenta mit der Nabelschnur und den Eihäuten hat sie in eine weisse, beschichtete Unterlage gepackt und bringt alles in eines der Arbeitszimmer, wo sie das Päckchen auf eine Ablage legt. Dann tritt die Ärztin dazu, und die blutige Plazenta wird von Auge auf ihre Vollständigkeit geprüft. Sie versorgte das Baby im Mutterleib mit Nährstoffen. Die Plazenta ist von schwammiger Konsistenz, hat einen Durchmesser von etwa 20 Zentimetern und ist ungefähr ein Sechstel so schwer wie das Kind. Sie wird nach dieser Untersuchung in einem Gefrierschrank gelagert und später mit anderen Spitalabfällen verbrannt.
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