„Bei manchen aber schon.“
„Ja, bei manchen schon. Aber jedenfalls gehört die einsame seelische Qual des ewig unbefriedigten Begehrens nicht zu unseren Problemen und es sieht nicht so aus, als ob wir die Wahl hätten.“
„Nein, sicherlich nicht. Weshalb wir auch nicht heiliggesprochen werden.“
„Was uns nicht weiter stören sollte.“
„Nein, auf keinen Fall.“
Die Mittagszeit nahte und sie bekamen Gesellschaft, Monika erschien und gleich darauf Iris, wenig später auch Corinna, nein, die Herrin. Streng sah sie aus und so unerbittlich, wie sie es mitunter tatsächlich war. Sie trug ein dunkles Kostüm und hatte ein Make-up aufgelegt, das ihr Gesicht weiß und kalt erscheinen ließ, wie aus Stein gemeißelt. Eine Bestrafung müsse sie vornehmen, berichtete sie mit einem geplagten Seufzen, als sei diese Aufgabe eine schwere Last, eines der Mädchen habe gestern Abend den armen Schulmeister einen verknöcherten geilen Langweiler genannt. Damit habe sie zwar nicht unrecht, fügte Corinna lächelnd hinzu, doch müsse eine solche Beleidigung natürlich gesühnt werden, gelte es doch schließlich die Disziplin zu wahren.
Laura war beeindruckt. „Ein solch mutiges Mädchen gibt es derzeit drüben? Das hätte ich nicht zu sagen gewagt.“
„Mut ist nicht das richtige Wort, Unüberlegtheit trifft es besser. Marianne weiß manchmal nicht so recht, was sie tut, mitunter galoppieren ihre Gefühle wild davon, ohne dass die Vernunft hinterherkommt.“ Corinna seufzte. „Aber sie wird schon noch lernen, sich zu zügeln.“ Das glaubten Laura und Silvia sofort. Corinna eilte gleich nach dem Essen hinaus, um rechtzeitig im Mädchenraum präsent zu sein.
Nachdenklich schaute Laura ihr nach. „Als Herrin ist sie wirklich zum Fürchten. Wenn sie so auftritt wie eben, fühle ich mich fast wieder wie eines der Mädchen von drüben. – Als Corinna aber ist sie sehr nett. Erstaunlich, dass ein Mensch solch unterschiedliche Seiten haben kann.“
Verträumt blickte Iris aus dem Fenster in den leeren Hof. „Sie kann auch sehr liebevoll sein und sehr zärtlich.“
Ach! Augenblicklich ruckten die Köpfe hoch. Was hatte das zu bedeuten? Wurde die zarte Blüte etwa von Corinna gepflückt? Wirklich verwunderlich erschien dieser Gedanke nicht. Und war es nicht allzu verständlich, wenn Iris nach den Erfahrungen mit männlicher Rücksichtslosigkeit nach weiblich einfühlsamer Zuwendung lechzte? Warum aber bekannte sie sich plötzlich dazu? Vielleicht war es ihr einfach ganz unbedacht herausgerutscht.
„Ich dachte nicht, dass wir im Kloster leben“, sagte sie und widmete sich wieder dem Essen.
*
Nein, kein Kloster, wirklich nicht. Zum ersten Mal begann für Silvia die Nacht der Herren schon am Nachmittag. Schwarz wählte sie in der Garderobe aus, einen Strapsgürtel aus durchbrochener Spitze, Netzstrümpfe und ein Negligé mit Rüschen, das nur bis zur Taille reichte. „Hurenwäsche“, sie würde Wolfgang sicherlich gefallen, nun aber lockte sie andere Männer. Heute war sie bei den Vorbereitungen nicht alleine. Monika, die heute ebenfalls Dienst hatte, zog ein durchsichtiges weißes Gewand an, das die linke Achsel mitsamt der üppigen Brust unbedeckt ließ.
Skeptisch betrachtete sie sich im Spiegel und ihr Blick schweifte zu Silvia. „Was hältst du davon?“
„Irgendwie siehst du wie eine antike griechische Göttin aus.“
„Gut. Vielleicht kommt ja irgendein Erdenmensch, um mich zu verehren. – Aber wo bleiben denn die anderen? Sie werden uns doch nicht alleine lassen?“
Kaum ausgesprochen, ging die Tür auf und eine große schlanke Frau trat ein. Sie trug eine dicke Jacke und eine enge Jeans, ihr Haar war fast so schwarz wie das von Monika, nur sehr kurz geschnitten, fast war es eine Männerfrisur. Ihre dunklen Augen schauten ernst, ihr Gesicht war ebenmäßig und stolz, gebräunt der Teint. Sie begrüßte Monika mit einem Lächeln und reichte Silvia die Hand. „Hallo, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Marlies.“ Silvia erwiderte den Händedruck und nannte ihren Namen. Irgendwie fiel es ihr schwer, in dieser Frau ein Mädchen zu sehen. Prüfend wurde sie von ihr gemustert. „Seit wann bist du denn hier?“
„Seit vorgestern.“
„Warst du schon mal im Foyer?“
Silvia nickte.
Monika schaltete sich beschwichtigend ein: „Sie macht es gut, ist keine Zicke. Du musst dir keine Sorgen machen.“
„Das ist schön zu hören. Man weiß ja nie bei den Neuen.“
Silvia sandte Monika ein dankbares Lächeln zu und Marlies zog sich aus, enthüllte ihren bronzefarbenen Körper, der glatt und haarlos war wie eine Statue. Klein waren die Brüste, lang die Beine, sie wirkte durchtrainiert wie eine Sportlerin. Während sich Silvia und Monika um ihr Make-up kümmerten, nahm Marlies ein knappes trägerloses Korselett aus schwarzem Leder von der Stange und ließ es sich von Monika eng schnüren. Das rot paspelierte Büstenteil umspannte die untere Hälfte ihrer Brüste wie ein Harnisch, schob sie nach oben, gab ihnen Fülle. Es reichte bis zur Taille und war an den halbrund geschnittenen Säumen vorn und hinten mit einem silbernen Ring besetzt, an denen sie eine fingerdicke Kette anschloss, die sich stramm gespannt zwischen die Lippen ihres Schoßes schmiegte. Dazu kamen hochhackige schwarze kniehohe Stiefel und ellbogenlange schwarze fingerlose Handschuhe. Ihre Lippen schminkte sie mit einem leuchtenden Rot, grübelnd von Silvia bestaunt. Wie ein williges Mädchen sah Marlies eigentlich nicht aus, eher wie eine Herrin, abgesehen mal davon, dass eine solche normalerweise mehr anhatte, um nicht als Lustobjekt herumzustiefeln.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann öffneten sie die Tür und zogen im Foyer ein, eine nach der andern, ein kleiner Trupp von Kokotten, stöckelnd auf hohen Absätzen. Fanfaren erklangen keine, dafür die ersten Takte eines klassischen Klaviers. Der Raum war leer, gut beheizt wie immer, noch kaum erwacht, nur Immanuel stand hinter seinem Tresen wie gewohnt.
War er denn immer hier? So gut wie immer, ja, es gab kaum einen Tag ohne ihn. Wohnte er denn hier? Sicher doch, zwar nicht hinter dem Tresen, wie man hätte vermuten können, aber im südlichen der beiden Türme, die des Schlosses Flügel behüteten. Darin hatte er sein Zuhause, doch mehr noch hier im Foyer, in das er verwachsen war wie das Herz in einem lebenden Organismus. Gab es sonst nichts in seinem Leben? Nicht mehr, seitdem seine Frau in relativ jungen Jahren verstorben war und er seinen Lehrstuhl für Geschichte an einer bedeutenden Universität aufgegeben hatte.
Was? Silvia staunte. Vom Universitätsprofessor zum Barmann eines Bordells, gab es eine solche Karriere wirklich? Aber sicher doch, bestätigte Marlies. Er habe die menschliche Geschichte als Kette unendlichen Leids begriffen, das die Mädchen hier besser kannten als seine gelangweilten Studenten. Und hier, so fügte Monika hinzu, könne er hautnah das erleben, was die Welt schon immer bewegte: die menschlichen Triebe und die Macht des Geldes. Und überdies, so behauptete Marlies, könne er hier für die Töchter sorgen, die ihm selbst nie geboren wurden.
Immanuel lächelte. Ob er ihren halblauten Worten lauschte oder nicht, ließ sich nicht herausfinden. Er brühte Kaffee auf, stellte drei Tassen auf den Tresen, schenkte ein, der gute Geist, der für seine Mädchen sorgte. Wieso aber sollten diese das menschliche Leid so gut kennen? Fühlten sie sich nicht wohl hier? Doch, das taten sie, aber darunter, unter dem Wohlgefühl und unter der verführerischen Hülle, da wohnte es, das Leid, vermutlich in jeder von ihnen, wurde manchmal für kurze Momente ans Licht gezerrt von den herablassenden Worten der Gäste und klarer noch unten, im Chambre O. Die Wurzeln saßen tief im Verborgenen, fest verankert, jedenfalls waren es nicht Glück und Unbeschwertheit, die in dieses Haus hier führten.
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