»Ich weiß.« Laura sah sie an. »Das haben wir alle versucht.« Sie seufzte tief, suchte nach Worten. »Ich … ich habe mir immer vorgestellt, dass es Paul gutgeht. Dass er vielleicht spielen war, hinfiel, ohnmächtig wurde, aufwachte und nicht mehr wusste, wer er war. Ich meine, so was hört man doch immer wieder. So wusste keiner, wer dieser kleine Junge ist, und er kam zu einer anderen Familie. Die ihn liebte.«
Wiebke fixierte eine Blume, studierte sie eingehend. »Das ist … das ist …«, murmelte sie und brach ab.
»Ja, ich weiß. Ganz schön unrealistisch, oder? Vielleicht wurde er auch entführt. Aber dann von jemandem Netten, weißt du?« Sie flüsterte plötzlich. »Von einer Frau, die keine Kinder bekommen konnte und Paul jetzt wie ihren eigenen Sohn liebt.«
»Von jemandem Netten«, wiederholte Wiebke und mit einem Mal waren die Tränen da, liefen über ihre Wangen, tropften auf die weichen Polster.
Laura verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. »Ich habe gar nicht mitbekommen«, sagte sie dumpf, »dass noch ein Junge verschwunden ist, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als …«
»Das stimmt!« Wiebke zog ein Taschentuch aus der Seitentasche des Strandkorbs hervor. »Wie hieß der Kleine noch mal? Fabian, oder?«
»Finn.«
»Ja, richtig.« Sie schluckte schwer, schnäuzte sich. »Und jetzt Tom! Aber … ich verstehe nicht. Zehn beziehungsweise neun Jahre später.« Sie schaute Laura mit großen Augen an. »Meinst du etwa, dass diese drei Fälle zusammenhängen?«
Laura legte ihre Hände in den Schoss, zupfte an ihrer kurzen Jeans. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Aber denk doch mal nach. Drei Jungen, die hier auf Fehmarn verschwinden. So was kann doch kein Zufall sein!«
Wiebke setzte sich gerade hin, wischte die Tränen mit einer schnellen Handbewegung ab. »Vielleicht war er im Gefängnis«, sagte sie laut. Laura runzelte ihre Stirn. »Der Entführer«, fuhr Wiebke fort. »Er kidnappt die zwei Jungen, wird dann lange Zeit wegen einer anderen Straftat eingesperrt, kommt heraus und dann ... dann entführt er unseren Tom!«
»Nein!« Lauras Stimme war scharf. »So war es ganz sicher nicht!«
Erstaunt blickte Wiebke sie an.
»So war es nicht«, wiederholte Laura stur.
»Okay, okay!« Beruhigend legte Wiebke eine Hand auf Lauras Bein. »Ich weiß es doch auch nicht, ich überlege nur laut.«
Laura nickte. »Aber so war es nicht«, sagte sie abermals. »Bitte!« So durfte es nicht gewesen sein, auf keinen Fall. Denn wenn der Mann – oder, wie sie lieber denken wollte, die nette Frau, die keine Kinder bekommen konnte – Paul und Finn entführt hatte und dann mehrere Jahre im Gefängnis saß, wo waren die beiden Jungen in der Zeit gewesen? Wer hatte sich in all den Jahren um sie gekümmert? Die Antwort lag ziemlich klar auf der Hand: niemand. Niemand hatte sich um sie gekümmert, und das hieß, sie waren …
Schnell sprang Laura auf. »Wenn wir Tom finden, dann finden wir auch Paul. Bestimmt!« Sie kramte in ihrer Tasche, holte das Notizbuch heraus und zückte ihren Stift. »Jetzt erzähl mir ganz genau, was passiert ist. Alles, jede Kleinigkeit.«
Wiebke zog Laura in den Strandkorb zurück. »Hör zu«, sagte sie, »die Polizei arbeitet auf Hochtouren. Sie geben sich alle Mühe, wirklich. Ich denke nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn wir uns da einmischen. Falls jemand tatsächlich drei Kinder entführt hat, dann ist er sicherlich ziemlich gefährlich.«
»Eben!« Laura nahm Wiebkes Hand und hielt sie fest. »Wie lange ist Tom jetzt verschwunden? Schon knapp eine Woche, oder? Und hat die Polizei irgendetwas erreicht?« Sie machte eine Pause. Als Wiebke nicht antwortete, fuhr sie fort: »Paul ist seit zehn Jahren weg und es gibt keine Spur. Nein, auf die Polizei können wir uns nicht verlassen. Wir müssen sie suchen, Wiebke. Du und ich.«
Wiebke bewegte sich unruhig und atmete mit einem Mal schwer. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, stieß sie mühsam hervor.
»Wie meinst du das?« Laura sah Verzweiflung auf ihrem Gesicht, sie sprang aus Wiebkes Augen wie ein Tier.
»Tom, er hat Diabetes. Es ist erst vor ein paar Wochen aufgetreten. Plötzlich, aus heiterem Himmel. Keiner in unserer Familie hat es. Typ 1 Diabetes. Unheilbar.« Wiebke traten erneut Tränen in die Augen. »Er braucht regelmäßig Insulin. Wenn er das nicht bekommt, dann steigt sein Blutzucker, immer weiter und weiter. Und … er kennt sich damit noch nicht richtig aus. Er ist doch erst sieben, Herrgott noch mal.«
Entsetzt schaute Laura Wiebke an. »Eine Woche ohne Insulin, das ist …« Wiebke schlang die Arme um ihren Körper. »Er wird sterben, wenn er nicht bald gefunden wird.«
17
Eine Woche ohne Insulin … Wiebkes Worte hallten in Lauras Kopf. Auf der Toilette hatte sie schnell gegoogelt und erschrocken gelesen, dass es für einen Diabetiker praktisch unmöglich war, ohne Insulin für mehr als ein paar Tage zu überleben. Natürlich hing das von allen möglichen Umständen ab – wie viel man aß, welche Kohlenhydrate es waren, ob man sich sportlich betätigte, ob der Körper noch eigenes Insulin bildete, wie es zu Beginn der Diagnose der Fall war und einiges mehr. Aber es war ganz sicher, dass Tom schnellstens gefunden werden musste, wenn er nicht bereits im diabetischen Koma lag, das durch Überzuckerung ausgelöst wurde.
Als Laura in den Garten zurückkam, saß Wiebke noch immer im Strandkorb, die Beine nah an den Körper gezogen, die Arme fest darum geschlungen. »Ich kann dir gar nicht viel sagen«, murmelte sie. »An dem Tag, als Tom verschwand, hatten gerade die Ferien begonnen. Ich wollte nach Spanien, war voller Vorfreude, habe meinen Koffer gepackt. Da kam dieser schreckliche Anruf.«
»Von wem?«
»Thorben. Meinem Sohn. Tom ist sein und Neles Kind.«
Laura nickte. »Wir müssen zu ihnen. Sofort.«
Wiebke blinzelte. »Sie haben so viel durchgemacht. Bestimmt wollen sie uns nicht noch einmal alles erzählen.« Müde fuhr sie sich durch das Gesicht. »Ich habe ihnen immer wieder meine Hilfe angeboten. Aber sie melden sich nicht. Ich glaube, sie stehen völlig unter Schock, können nicht begreifen, was passiert ist.«
»Aber sie wollen ihn wiederhaben und dabei kann ihnen doch nur jede Unterstützung recht sein. Wir müssen es wenigstens versuchen.« Bittend hielt Laura Wiebke eine Hand hin.
»In Ordnung.« Seufzend ergriff sie Lauras ausgestreckten Arm und stand auf. »Ich hole nur schnell meine Tasche und den Autoschlüssel, dann können wir los.«
Laura wurde blass. »Wohnen sie denn nicht in der Nähe? Ich dachte, wir könnten hinlaufen«, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
Stirnrunzelnd blieb Wiebke stehen. »Ja, schon, so weit ist es nicht. Aber du hast doch selbst gesagt – jede Minute zählt!«
Mit den Füßen fest auf dem Boden, so, als wäre sie verwurzelt, blieb Laura regungslos stehen. »Ich fahre kein Auto.«
»Okay.« Wiebkes Furchen auf der Stirn wurden noch tiefer. »Du musst ja auch nicht fahren. Das mache ich.«
»Nein.« Abwehrend hob Laura die Hand. »Ich fahre auch nicht mit. Ich steige in überhaupt kein Auto ein.«
Wiebke schloss für einen Moment die Augen und sah mit einem Male sehr alt aus. Dann gab sie sich einen Ruck, trat einen Schritt auf Laura zu und blieb erneut unsicher stehen.
»Du fährst kein Auto«, wiederholte sie tonlos. »Kein Auto mehr.«
Laura nickte. Starrte in den Garten, auf die Blumen. Bitte nicht die Bilder, diese schrecklichen Bilder. Nein, sie wollte nicht daran denken, sie wollte …
Doch sie waren wieder da, explodierten in ihrem Kopf.
Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist … Ihre Mutter überlegte und schaute sich im Auto um. Ihre Sonnenbrille hatte sie auf ihre lockigen Haare geschoben, suchend wanderten ihre Augen umher, blieben auf Laura haften, die auf der Rückbank saß, strahlten.
Читать дальше