Laura bewegte sich unbehaglich auf der Couch. Wenn sie ihn trotz dieses Aufwandes nicht gefunden hatten, dann sprach das nicht gerade dafür, dass er sich irgendwo versteckte. Nein, sie war sicher – auch Tom war entführt worden. Es war da. Real. Es gab das Monster auf Fehmarn, das Kinder stahl.
Trotzdem versuchte sie, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. »Er taucht sicher wieder auf«, sagte sie behutsam. »Wie hoffentlich auch mein Bruder Paul. Er ist ebenfalls verschwunden. Wir wollen sie finden, beide. Bitte helfen Sie mit!« Der letzte Satz hatte einen flehenden Unterton.
Nele schaute Laura einen Moment regungslos an, dann ließ sie sich mit einem Seufzer in einen der großen Sessel sinken.
»Ich glaube nicht, dass das eine mit dem anderen etwas zu tun hat«, wiederholte sie. »Aber gut, während ich hier warte, kann ich auch mit euch reden.« Sie griff erneut nach ihrem Taschentuch, knetete es allerdings nur in der Hand. »Heute ist es genau sechs Tage her«, fuhr sie fort. »Freitag, die erste Ferienwoche neigte sich gerade dem Ende entgegen. Ich hatte Urlaub, drei Wochen, wir wollten hier auf der Insel bleiben. Thorben hat im Moment ebenfalls frei.« Nun schnäuzte sie sich doch. »Wir waren einkaufen, sind durch Burg gebummelt, Tom sollte ein paar neue Sommersachen bekommen. An dem Kinderladen nahe dem Marktplatz passierte es dann. Ich verlor Tom kurz aus den Augen. Das geschieht schon mal, ich dachte mir nichts dabei und stöberte weiter bei den Schwimmhosen. Bis ich ihn rief und er nicht antwortete. Er war nicht mehr im Laden, er war nirgendwo.« Man sah ihr an, welches Entsetzen allein die Erinnerung an diesen Moment in ihr auslöste.
»Ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?« Laura beugte sich vor.
Neles Gesichtsausdruck änderte sich. Mit Geringschätzung sah sie Laura an. »Das haben mich die Polizisten natürlich auch schon gefragt«, sagte sie. »Und nein, mir ist nichts aufgefallen. Niemand, der uns verfolgt oder in der Nähe herumgelungert hat. Alles war so wie immer.«
»Alles so wie immer.« Laura wiederholte den Satz, doch sie saß nicht mehr in dem Wohnzimmer. Sie befand sich wieder in den sonnigen Gassen von Burg. Lief lachend hinter Paul her. Schnell wischte sie das Bild zur Seite. »Das haben wir auch gedacht, als wir Eis essen waren. Damals, vor zehn Jahren. Ich kann mich noch genau erinnern, denn meine Mutter hat uns drei Eiskugeln erlaubt. Das durften wir sonst nie, höchstens zwei. Aber an dem Tag war sie besonders gut gelaunt. Wir standen in der langen Schlange vor dem Eiscafé. Überall um uns herum Menschen, alle wollten eine Erfrischung. Meine Mutter alberte mit mir herum. Ich weiß nicht mehr genau, was mein Vater machte.« Laura hielt inne und holte Luft. »Ich weiß nur noch, dass wir schließlich an der Reihe waren. Und meine Mutter fragte, was für Kugeln Paul wolle. Und dass Paul nicht da war. Wir riefen, wir suchten, dachten erst, er habe sich versteckt. Aber wir fanden ihn nicht wieder. Er war wie vom Erdboden verschluckt.«
Nele starrte Laura einen Augenblick an. Dann wandte sie den Blick ab.
Laura wünschte sich plötzlich, Nele hätte ihnen etwas zu trinken angeboten. Ihr Hals fühlte sich zu trocken an. Sie räusperte sich. »Meiner Mutter ist es dann wieder eingefallen, nicht sofort, aber nach einiger Zeit. Dieser schwarze Opel. Er stand an dem Tag in der Nähe der Eisdiele. Sie konnte sich daran erinnern, weil sie gedacht hatte, dass man in so einem dunklen Wagen bei diesen Temperaturen ganz schön schwitzen müsse. Und weil sie den Wagen schon öfter gesehen hatte. Als wir am Südstrand waren. Und als wir die Galileo Wissenswelt besucht haben.«
»Na und?«, rief Nele erbost. »Weißt du, wie viele schwarze Opel es auf Fehmarn gibt? Das heißt doch gar nichts!«
»Es sind etwa zweihundert«, antwortete Laura.
In Neles Gesicht spiegelte sich bei der schnellen Antwort Überraschung wider. Laura achtete nicht darauf. Als würde sie ablesen, ratterte sie herunter: »Auf Fehmarn gibt es rund sechstausendfünfhundert Autos, ungefähr zweihundert davon waren dunkle Opel, hat die Polizei damals ermittelt. Sie hat versucht, alle Halter zu überprüfen, ich weiß nicht, ob sie das geschafft haben. Gesagt haben sie es uns. Aber gut zweihundert Stück, das ist ganz schön viel. Da kann einem was durch die Lappen gehen.«
Nele stieß hörbar die Luft aus. »Das bringt doch nichts. Ihr müsst der Polizei die Arbeit überlassen. Die wissen schon, was sie tun.« Sie wollte aufstehen, aber plötzlich erstarrte sie. Blieb wie angewurzelt sitzen, die Hände auf die Sessellehnen gestützt. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. Wiebke sprang erschrocken auf. »Nele, ist dir nicht gut? Laura, lauf doch in die Küche, erste Tür links, und hol ein Glas Wasser!«
Wiebke hockte sich neben Nele und nahm ihre Hand. Laura wollte gerade das Wohnzimmer verlassen, als Neles Stimme sie zurückhielt. »Tom ist auf die Straße gelaufen«, sagte sie. Sie flüsterte, Laura musste sich anstrengen, sie zu verstehen. »Kurz vor dem Kleiderladen. Er hat natürlich weder nach rechts noch nach links gesehen, wie immer. Ich musste ihn zurückziehen, denn ein Auto ist an uns vorbeigefahren. Fast hätte es ihn erwischt.«
Laura drehte sich vollends herum, mit großen Augen schaute sie Nele an, die immer noch wie eine Porzellanpuppe in dem Sessel saß.
»Ich habe das völlig vergessen. Aber …« Sie war jetzt kaum zu verstehen.
Laura trat näher, schaute sie gebannt an.
»Es war ein dunkles Auto. Ein Opel.«
Laura schloss die Augen. Das war es. Das war der Beweis. So viele Zufälle konnte es einfach nicht geben. Nein, sie hatte Recht. Die drei Jungen waren entführt worden, in diesem Opel, in diesem verdammten schwarzen Wagen.
Nele schien das Gleiche zu denken, denn ihre Wangen wurden noch bleicher. »Oh mein Gott«, murmelte sie.
Wiebke fasste sich als Erste. »Das ist doch gut«, sagte sie und versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Wir sind auf einer Insel. Hier gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Autos und eine begrenzte Anzahl von Fahrzeughaltern. Die Polizei muss diese Spur einfach wieder aufnehmen, alle überprüfen und zack – wir haben Tom gefunden.« Sie sah zu Laura hinüber. »Und Paul natürlich auch«, fügte sie schnell hinzu.
Laura nickte. Doch so sehr sie es versuchte, sie konnte keine Freude spüren. Zweihundert, das waren so viele. Und nicht nur das. Fehmarn war keine wirkliche Insel mehr. Die Brücke verband sie mit dem Festland, schnell, sehr schnell konnte man von hier nach drüben fahren. Nur gut zwei Stunden entfernt lag Hamburg. Wie viele dunkle Opel gab es dort, wie viele in Heiligenhafen, wie viele in den kleinen Städten dazwischen? Und dann konnte man ja auch noch Richtung Dänemark verschwinden … nicht auszudenken, wenn der Entführer gar kein Deutscher wäre. Nein, sie brauchten mehr als das. Weitere Anhaltspunkte.
»Konntest du irgendetwas erkennen?«, fragte sie Nele hoffnungsvoll. »Wer hat das Auto gefahren?«
Nele ließ sich in den Sessel zurücksinken, nervös nestelte sie an ihrem Kragen. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe nur auf Tom geschaut.« Sie schluchzte auf. »Ich habe mit ihm geschimpft. So geschimpft, weil er auf die Straße gelaufen ist. Hätte ich das bloß nicht gemacht!« Plötzlich wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
In dem Moment öffnete sich die Tür. Ein großer, schlanker Mann stand im Türrahmen, um die Vierzig, doch er wirkte wie ein Greis. Seine Gesichtszüge waren eingefallen, sein dunkles Haar hing wirr in die Stirn. Laura fand, dass er fast ein wenig verrückt aussah, wie er so dastand, sich nicht rührte und auf die drei Frauen starrte.
Nele bewegte sich als Erste. »Thorben, was ist los?«, fragte sie. Ihre Stimme klang dünn wie Eis, das kurz davor ist, zu zerbrechen.
Ihr Mann antwortete nicht. Stattdessen schob sich hinter ihm eine weitere Person in das Zimmer, die Laura gar nicht wahrgenommen hatte. Ein junger Polizist in Uniform, der Thorben sanft zur Seite drückte, verlegen in die Runde schaute und dann nervös lächelte.
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