»Immer dasselbe!«, sagt der Vater. Er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Mit dir kann man nicht spielen, immer gleich beleidigt!« Er rollt mit den Augen und packt das Spiel ein. »Wozu, glaubst du, heißt wohl das Spiel Mensch-ärgere-dich-nicht?«
Das Kind weiß nicht, warum das dumme Spiel so heißt. Es muss weiter weinen, schämt sich aber, guckt auf den Boden und will mit niemandem reden. Da mischt sich die Frau ein, sie spricht sanft mit dem Kind, sie holt die Töne aus dem Inneren ihres Bauches. Mit einer tiefen Stimme sagt sie: »Na klar ärgert man sich dabei! Das Spiel heißt ja nur deshalb so. Auch Erwachsene ärgern sich dabei, das ist nicht schlimm. Weißt du was? Das ist überhaupt ein ganz doofes Spiel, weil es immer nur drauf ankommt, einen verlieren zu lassen.« Das Kind schaut die fremde Frau an, als sie sagt: »Dazu hast du es doppelt schwer. Gegen zwei Erwachsene kann man gar nicht gewinnen. Die Erwachsenen sind ja meist im Vorteil gegenüber den Kindern.« Das Kind lächelt jetzt ein wenig. Es schaut der Frau genau ins Gesicht. Die Frau lächelt zurück.
So was hat es noch nie erlebt, dass eine so spricht. Ulrike, denkt das Kind, was die für Sachen sagt!
Später kommt das Kind in einen anderen Kindergarten. Der ist etwas weiter weg, man muss dorthin über eine große Straße gehen, dann über einen Zebrastreifen, dann links, dann rechts lang, dann geradeaus und noch einmal um eine Ecke. Dort hat sie sich mit Sonja angefreundet. Sonja hat rote Haare und lacht so lieb. Sie sind in der Gruppe von Frau Würfel, die ist sehr nett. Bei Frau Würfel müssen sie nicht aufessen, wenn sie nicht mehr können, und sie werden nicht angemeckert. Sie zeigt ihnen Bilder aus einem fernen Land. Da ist sie oft im Urlaub. Die Bilder sind an der Wand zu sehen, wie ein Film. Da sieht man eine Wüste und Traktoren und hinter Zäunen grüne Wiesen. Das Land heißt Israel, und die Menschen, die dorthin gekommen sind, waren fleißig und haben aus Wüsten grüne Weiden gemacht. Vorher waren dort nur faule Leute, sagt Frau Würfel, die nichts gegen die Wüsten getan haben.
An den Nachmittagen vor Weihnachten basteln sie im Kindergarten. Dazu müssen sie eine Mark mitbringen. Sie dürfen halbrunde Kokosschalen zu Anhängern schmirgeln, kleine silberne Drähte und glitzernde Perlen zu Ketten auffädeln und biegen, aus Peddigrohr kleine Tabletts und Körbe flechten, aus runden Strohhalmen Strohsterne plätten, Holzkästchen bemalen. Dem Kind macht nichts so sehr Spaß wie Basteln. Es denkt sich für jede seiner Tanten, für die Oma, für die anderen Großeltern und für ihre Mutter die schönsten Geschenke aus und träumt davon, wenn es groß ist, einmal Stühle zu bauen. Oma Erna sagt, das komme daher, dass das Kind praktisch veranlagt sei.
Zu Hause packt das Kind jedes Geschenk sorgfältig mit Schleifen ein. Am Ende liegt auf dem Bett ein Berg in Weihnachtspapier eingewickelter Geschenke. Als die Mutter nach Hause kommt, blickt sie überrascht auf die Sachen.
»War dein Vater hier?«, fragt sie erschrocken und deutet auf die Geschenke. Die Mutter glaubt, der Vater hat all das gekauft. Das Kind sagt nein, aber die Mutter glaubt das nicht. Die Mutter schimpft, sie sagt, sie wolle nicht, dass Papi sie mit Geschenken erpresse.
Sonja wohnt in einer kleinen Wohnung um die Ecke in einem großen, alten Häuserblock. Die Wohnung hat eine Stube und ein Schlafzimmer, beide nach vorn gelegen, aber die Kinder dürfen dort nicht hinein. In der Stube wohnt ein Onkel Walther, der liegt immer auf dem Sofa, ruht aus oder schläft. Im Schlafzimmer stehen die Elternbetten, von denen nur eines benutzt wird. Sonjas Vater ist auch weggegangen. Bei Sonja kommen nie andere Männer, da gibt es nur den Onkel auf dem Sofa, der aber nie etwas sagt. Sonjas Mutter kommt jeden Nachmittag nach Hause und macht Essen, lässt für den nächsten Tag etwas übrig, damit Sonja am nächsten Mittag noch Essen hat, das sie sich warm machen kann. Wenn das Kind mit zu Sonja kommt, machen sie sich Zucker-Ei. Dazu trennen sie Eiweiß und Eigelb und schlagen jedes mit viel Zucker einzeln auf, am Ende geben sie es zusammen und schöpfen es mit einem kleinen Eislöffel ab. Sie spielen im Hof Gummitwist und Abklatschball und turnen auf der Teppichklopfstange. Das Kind ist gern mit Sonja zusammen. Sie bauen sich aus vielen Decken auf dem Balkon eine Höhle, da kriechen sie hinein und essen Zucker-Ei, und das ist das Allerschönste.
Eines Tages sagt die Mutter, der Arzt habe gesagt, das Kind müsse verschickt werden, in ein Heim. Es sei zu dünn und zu oft krank. Auf dem Land wird man gesund, bei frischer Luft. Das Wort Heim macht dem Kind Angst. Die Mutter sagt, dort sei es gut. Das Kind findet das nicht. Statt in die Schule zu kommen, bekommt es ein Schild um den Hals und wird mit vielen anderen Kindern zu einem Zug gebracht. Schüchtern sitzen sie zusammen in der Eisenbahn. Sie fahren nach Wyk. Das ist auf Föhr, einer Insel in der Nordsee. Zu den Erzieherinnen müssen sie Tante sagen. Das kennt das Kind aus dem Kindergarten.
Abends liegen sie im Schlafraum. Es ist ein riesiger Schlafraum, mit vielen kleinen Feldbetten. Eine Tante ist hinten im Raum, kommt immer näher. Das Kind liegt unter der grauen Decke und hat Angst. Denn die Tante geht von Bett zu Bett, nimmt die Hände der Kinder hoch, besieht sie lange und legt sie wieder hin. Und was macht sie dann? Sie zieht etwas Weißes aus der Tasche, steckt die Hände der Kinder hinein und schnürt sie mit einem Band unten am Bett fest. Das Kind beobachtet die Tante und rührt sich nicht. Die weißen Stofflappen sind Handschuhe ohne Finger. Plötzlich versteht das Kind: Die Kinder, die noch am Daumen nuckeln, werden mit ihren Händen ans Bett gebunden. Der Schrecken fährt dem Kind über die Haut, bis hin zum rechten Daumen. Ohne den kann es nicht einschlafen. Deshalb ist der rechte Daumen auch kleiner als der linke. Das kann man sehen. Das Kind legt die Hände rechts und links aufs Bett. Als die Tante ganz nahe ist, schließt das Kind die Augen, hält die Luft an, stellt sich tot. Die Erzieherin geht vorbei, Glück gehabt!
Tagsüber kommen sie in einen großen, kahlen Raum. Der Raum ist viereckig, leer und bis unter die Decke gekachelt. Die Mädchen bekommen kleine schwarze Brillen, die sie aufsetzen müssen. Es riecht komisch. Dort müssen sie sich nackt ausziehen und Plumpssack spielen. Derweil scheinen grüne Lichter. Sie bleiben lange dort drinnen. Es ist kalt und unangenehm. Das Kind will nicht nackt sein und nicht Plumpssack spielen. Danach treffen sie eine andere nackte Gruppe, Jungen, im Treppenhaus. Das Kind schämt sich und möchte weglaufen. Die Erzieherinnen lachen darüber.
In diesem Heim schämt sich das Kind oft und hat immer Angst, für irgendetwas bestraft zu werden. Deshalb muss es gut aufpassen. Dabei hat es keine Zeit, an Zuhause zu denken. Das Kind hat vergessen, dass es in der Dehnhaide wohnt. Es denkt auch nie an die Eltern, nur manchmal an die Oma. Die Kinder bekommen keine Briefe und dürfen nicht telefonieren. Der Alltag ist ausgefüllt mit Pflichten und Dingen, die sie falsch gemacht haben und für die sie angemeckert werden.
Sie lernen dort unheimliche Lieder, die das Kind voller Wehmut mitsingt: »Wildgänse rauschen durch die Nacht mit schrillem Schrei nach Norden; unstete Fahrt habt Acht, habt Acht, die Welt ist voller Morden …«
Die Verschickung dauert sechs Wochen. Nach Hause werden Karten geschickt, die haben die Tanten geschrieben. Auf denen steht, dass es den Kindern gut gehe. Das Kind darf nicht in den Raum, wo die Karten liegen.
Als es wieder zu Hause ist, will es nie wieder verschickt werden. Das war ein ganz schlimmes Heim, sagt das Kind.
Selten kommt Besuch in ihre Wohnung. Das Kind freut sich, als einmal ein Onkel mit seiner Frau kommt. Doch da muss das Kind Mittagsschlaf halten. Durch die Wand hört es den Onkel lachen und mit der Mutter reden. Da schleicht es hinaus, möchte horchen, was geredet wird. Plötzlich sieht das Kind in der Küche einen Geldschein liegen, groß und bunt auf dem Tisch. Der Schein will, dass das Kind die Hand ausstreckt und ihn einsteckt, heimlich, und wegläuft, ganz schnell, zurück ins Bett und den Atem anhält, und lauscht und Angst hat, entdeckt zu werden, mit klopfendem Herzen.
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