»Du altkluge Göre«, schimpft die Mutter, »was fällt dir denn ein?«
Später einmal sind die Mutter und sie in einem Lokal, die Mutter schaut sich um, holt einen Spiegel heraus und richtet ihre Haare. Sie schaut nochmals sich um und lacht unsicher. Hinten sitzt eine Gruppe Männer, die prosten ihr zu. Ein Mann löst sich von der Gruppe und kommt näher. Als der Mann an den Tisch tritt, wird die Mutter verlegen, dann sagt sie ihren Namen und ein viel jüngeres Alter. Am Ende deutet sie auf das Kind und sagt: »Das ist meine kleine Schwester.«
Wäre ich nur weg, denkt das Kind, das wäre gut für die Mutter. Sie hätte dann Ruhe und könnte machen, was sie wollte und müsste nicht zu Hause bleiben.
Oft ist das Kind krank. Mandelentzündung. Dann macht die Mutter morgens das blaue Sofa im Wohnzimmer zurecht, und das Kind kriegt das Essen ans Bett gestellt. Vormittags hört das Kind im Radio Schulfunk, und danach legt es sich Kinderlieder und Märchenplatten auf. Es liegt auf hohen Kissen und schaut sich Bilderbücher an. Und die Mutter kommt an solch paradiesischen Tagen früher nach Hause.
Abends kann das Kind oft nicht einschlafen. Der Bauch tut weh, es steht noch mal auf, geht ins Bad. »Mir ist schlecht«, sagt das Kind. Die Mutter kommt dann und hält die Stirn, wenn es sich über der Kloschüssel erbricht. Das ist ein gutes Gefühl.
Wie im Paradies ist es auch, wenn das Kind seine Oma besuchen darf. Dazu fährt es mit der Mutter zusammen im Zug nach Stade. Die Oma hat immer lustige Einfälle und kann witzige Geschichten auf Ostpreußisch erzählen. Das Kind lacht dort viel, zusammen mit Oma Erna und Tante Gertrud. Ihre Tanten sind auch oft da, die helfen dann immer im Haushalt. Die Mutter bleibt nie lange, fährt bald wieder weg, das Kind bleibt. Das ist aber nicht schlimm, bei der Oma fühlt sich das Kind nicht allein. Die Oma hat immer viel Zeit, sie kochen zusammen und lachen und erzählen. Oma Erna wohnt in einem alten hohen Haus mit einer Holzbalkenfassade, in der Kirchhofstraße in Stade. Dort gibt es eine alte Zinkbadewanne auf dem Boden, da baden sie das Kind. Und manchmal, wenn es Fieber hat, wird das Kind von Tante Gertrud und Oma Erna in viele Laken eingewickelt und muss im Bett unter drei Federbetten schwitzen. Das ist anstrengend, aber da fühlt sich das Kind gut aufgehoben.
Oma Erna liegt manchmal schon am Tag im Bett, denn sie hat Migräne. Sie liegt dann im dunklen Zimmer und will allein sein. Oma Erna wohnt mit Tante Gertrud, ihrer Schwester, zusammen und hat noch Fritz und Walther bei sich, ihre jüngsten Kinder. Die essen immer zu wenig, findet die Großmutter, und abends gehen sie oft noch weg.
An Hand der Oma Erna macht das Kind in Stade lange Spaziergänge in die Wiesen. Dort grasen sogar Kühe, man kann von weit weg den Stader Kirchturm sehen. Die Oma unterhält sich mit dem Kind wie mit einer Erwachsenen, während sie dort wandern. Sie erzählt von den Dingen des Lebens und der Natur und erklärt ihr die Sternzeichen und dass Gott sei Dank nun endlich Frieden sei.
Oma Erna erzählt auch von der Flucht, und wie sie mit sieben Röcken übereinander, mit sechs Kindern, der Omama, dem Opapa und der Tante Gertrud geflüchtet seien vor dem Krieg. Und das Kind sieht riesige Rauchwolken vor sich und brennende Häuser.
»Komm, hilf mir«, sagt sie, wenn sie auf dem Friedhof ankommen, zu dem sie oft durch die Wiesen wandern, »du bist jetzt schon groß.« Und das Kind darf mithelfen bei der Gartenarbeit, darf die Harke holen und das Wasser, und darf kleine Blümchen pflanzen und mit der großen Harke harken und die Blumen gießen.
Oma Erna kocht einen weißen Pudding mit Eischnee und Kirschen. Den stellt sie zum Abkühlen oben auf den Küchenschrank. Dort stehen Weihnachten die Keksdosen, gefüllt mit Lebkuchen. Kuchen wird in einer großen braunen Schüssel angerührt, und der Braten im Ofen muss gut bewacht und gewendet und mit Wasser begossen werden. Das Kind darf bei allem helfen. Das Essen nehmen sie an einem riesigen Tisch im Wohnzimmer ein. Dort sitzen sie dann alle. Die beiden Tanten, die beiden Onkel, die noch zur Schule gehen, Tante Gertrud, ihre Oma und sie.
»Du bist gut«, sagt die Oma und streichelt dem Kind über den Kopf. Das Kind liebt es, wenn die Oma so zu ihr ist. Im Wohnzimmer tickt eine dunkelbraune Wanduhr und schlägt jede Viertelstunde. Das Kind hört dem Schlagen der Uhr gerne zu, wenn alle ausruhen und man im Wohnzimmer auf dem Sofa liegen darf.
Vor Opa Heinrich, dem Vater ihrer Mutter, hat das Kind Angst gehabt, solange er noch lebte. Er war nicht oft da, denn er musste in seiner »Kanzlei« arbeiten. Er habe eine Anwaltskanzlei, hieß es, gleich neben der Regierung, darüber wurde mit Ehrfurcht gesprochen. Er sei außerdem ein Regierungspräsident, sagten sie, und das stellte sich das Kind wie einen Fürst oder einen König vor. Davon erzählte er nie, das war sein Geheimnis. Wenn er sich über einen beugte, war er riesig, er hatte ein großes, rundes rotes Gesicht, das noch roter wurde, wenn er brüllte. Er war herzkrank, sagten die Erwachsenen. Eines Tages war er tot. Wenn das Kind in Stade ist, darf es von da an in seinem verwaisten Bett schlafen, gleich neben der Oma.
Bei Oma Erna bekommt das Kind Max und Moritz vorgelesen, das kann es schon auswendig, die Oma ist stolz darauf und zeigt den Tanten, wie das Kind den Text auf jeder Seite passend zu den Bildern hersagen kann und auch das ganze Buch von Wilhelm Busch Seite für Seite auswendig weiß, ganz so, als lese es. Darauf ist das Kind mächtig stolz. Doch vor manchen Bildern hat das Kind Angst, die überschlägt es dann lieber. Dem Lehrer Lämpel explodiert die Pfeife, und er sieht ganz verkohlt aus, oder wo die Hühner an den Bändern über der Stange baumeln. Es mag auch nicht, wenn im Märchen dem Wolf der Bauch aufgeschnitten wird, und wenn das Mädchen zur Strafe mit heißem Pech übergossen wird. Die Oma spricht sehr oft davon, dass man brav sein muss, und von Jesus, der das Gute unter die Menschen hatte bringen wollen, aber die Menschen hätten es nicht verdient, weil sie schlecht seien.
Das Kind will schnell erwachsen sein, es ist nicht gern Kind. Kind sein heißt allein sein, schuld sein, essen müssen, schlafen müssen, brav sein müssen. Kind sein heißt, sich nicht wehren zu können. Ganz schnell will es groß sein, nur endlich groß sein.
Im Kindergarten müssen sie eine geschwungene Treppe hinaufgehen, oben herrscht Gewimmel. Meist spielen sie mit Knetgummi an Tischen und malen mit Wachsmalstiften, um die Zeit herumzukriegen. Zum Schlafen werden Betten herausgeholt, dann muss man leise sein und wird immer wieder angemeckert.
»Wenn jemand nicht essen will, müssen wir ihn wohl füttern«, sagt die Erzieherin, sie nennen sie Tante. Sie schaut das Kind aus strengen Augen an. Die anderen Kinder brüllen: »Bummelletzter, Abgepetzter!« Die Tante hebt das Kind auf ihren Schoß, grob, das Kind wehrt sich. Dann beginnt die Tante, es mit Rosenkohl zu füttern. Der ist kalt und schmeckt bitter. Die Tante stopft dem Kind dickes, mehliges Mus in den Mund. Das Kind sammelt es in den Backen und kann nicht schlucken. Die Tante stopft. Das Kind muss würgen. Schließlich schluckt es, aber es ist nicht schnell genug, immer weitere Löffel stopft ihr die Tante in den Mund. Tränen kommen. Endlich ist der Teller leer. Das Kind läuft zur Toilette, beugt sich über die Schüssel und übergibt sich. Das Hochgewürgte schmeckt bitter und kratzt im Hals. Aus dem Fenster sieht man eine Bahn, silbern mit roten Türen.
Einmal kommt der Vater das Kind abholen und sagt: »Heute gibt’s eine Überraschung.« Sie gehen in die Wohnung, in der der Vater wohnt. Die Wohnung ist dunkel. Dort wartet eine Frau mit braunen Haaren. »Das ist Ulrike«, sagt er, »meine neue Freundin.« Die Frau ist ruhig und nett. Gemeinsam spielen sie Mensch-ärgere-dich-nicht. Das Kind verliert. Nach einer Weile weint es, will nicht mehr mitspielen.
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