Iwan Turgenew - Die Geschichte des Vaters Alexej
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lvan S. Turgenev
Die Geschichte des Vaters Alexéi
Vor zwanzig Jahren mußte ich als Privatrevident die recht zahlreichen Besitzungen meiner Tante bereisen. Die Geistlichen, deren Bekanntschaft zu machen ich für meine Pflicht hielt, erwiesen sich als ziemlich gleichförmige Persönlichkeiten, als wären sie nach demselben Maße angefertigt. Endlich, beinahe auf der letzten von mir besichtigten Besitzung, stieß ich auf einen Geistlichen, der seinen Amtsbrüdern nicht glich. Es war ein sehr alter Mann, beinahe hinfällig, und wären die inständigen Bitten seiner Pfarrkinder, die ihn liebten und verehrten, nicht gewesen, er hätte schon längst darum nachgesucht, sich zur Ruhe setzen zu dürfen. An dem Vater Alexéi (so nannte man den Geistlichen) setzten mich zwei Eigenheiten in Erstaunen. Erstens erbat er nicht allein nichts für sich selbst, sondern erklärte sogleich, daß er nichts bedürfe, und zweitens sah ich noch auf keinem menschlichen Antlitz einen so schmerzlichen Ausdruck der Teilnahmslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Dies Gesicht hatte die gewöhnlichen Kennzeichen des bäuerischen Typus: eine gefurchte Stirn, kleine graue Augen, eine große Nase, einen keilförmigen Bart und eine dunkle sonnenverbrannte Haut . . . Aber der Ausdruck, . . der Ausdruck! . . . In den trüben Blicken glimmte kaum eine Spur von Leben, und auch die war traurig. Die Stimme war auch nicht recht lebendig, auch trübe. Ich erkrankte und mußte einige Tage zu Bette liegen. Vater Alexéi kam des Abends zu mir, nicht um sich mit mir zu unterhalten, sondern um Duratschki 1 1 Ein in Russland übliches Familien-Kartenspiel.
zu spielen. Das Kartenspiel schien ihn noch mehr zu zerstreuen, wie mich. Einst, als ich mehrere Male hintereinander »Durák« geblieben war, worüber Vater Alexéi sich nichts wenig freute, brachte ich das Gespräch auf sein vergangenes Leben, auf die Leiden, die so deutliche Spuren bei ihm zurückgelassen hatten. Vater Alexéi sträubte sich erst lange, erzählte mir aber doch zuletzt seine Geschichte. Jedenfalls erregte ich in irgend einer Weise sein Wohlgefallen, sonst wäre er wohl nicht so mittheilsam gewesen.
Ich will versuchen, seine Erzählung mit seinen eigenen Worten wiederzugeben.
Vater Alexéi sprach sehr einfach und klar, ohne provinzielle oder seminaristische Künsteleien und Redewendungen. Ich bemerkte nicht zum ersten Male, daß hart mitgenommene und gebeugte russische Leute aller Stände und Berufskreise sich gerade in dieser Art Sprache ausdrücken.
»Ich hatte eine gute, ehrbare Frau, – so begann er – und erzeugte mit ihr acht Kinder, aber fast alle starben noch in zartem Alter. Einer meiner Söhne wurde Archieréi 2 2 Erzpriester, eine höhere geistliche Würde.
und starb vor nicht allzu langer Zeit in seinem Sprengel. Von meinem anderen Sohne, Jakob hieß er, will ich Ihnen jetzt erzählen. Ich schickte ihn in das Seminar der Stadt T. und erhielt bald sehr befriedigende Nachrichten von ihm. Er war der beste Schüler in allen Fächern. Auch zu Hause als Knabe hatte er sich durch Fleiß und Bescheidenheit ausgezeichnet; es vergingen oft Tage, wo man ihn kaum hörte, immer saß er vor seinem Buche und las. Niemals hat er mir und der Popadjá 3 3 Die Popenfrau, so bezeichnet er seine Gattin.
die geringste Unannehmlichkeit bereitet, er war ein frommer Knabe. Nur zuweilen hatte er Gedanken, die nicht für sein Alter paßten und seine Gesundheit war recht schwach. Einst geschah mit ihm etwas Wunderbares; er war damals zehn Jahre alt. Er hatte sich, gerade am Tage des heiligen Petrus, schon beim Frühroth vom Hause entfernt und war den ganzen Morgen verschwunden. Endlich kehrte er zurück, meine Frau und ich fragten ihn: Wo warst du? Im Walde, antwortete er, ich bin spazieren gegangen und mir ist dort ein grüner Greis begegnet, welcher mit mir gesprochen und mir sehr wohlschmeckende Nüsse gegeben hat!« – »Was für ein grüner Greis«, fragten wir. – »Ich weiß es nicht«, antwortete er, »ich habe ihn bisher noch nie gesehen, ein kleiner Greis mit einem Höcker, mit den Füßen schlenkerte er beständig und lachte dabei, und so grün war er wie ein Blatt.« – »Wie«, sagten wir, »auch das Gesicht war grün?« – »Ja, das Gesicht, die Haare und sogar die Augen.« Unserer Sohn log nie, aber hier mußten meine Frau und ich doch zweifeln. »Du bist wohl bei der Sonnenhitze im Walde eingeschlafen und hast den Greis im Traume gesehen.« – »Ich habe nicht geschlafen«, sagte er, »durchaus nicht, aber wie«, fuhr er fort, »Ihr glaubt mir nicht! Hier in meiner Tasche ist noch eine Nuß übrig geblieben.« Jakob nahm aus seiner Tasche die Nuß und zeigte sie uns. Es war ein kleiner Kern in der Art der Kastanie, ganz rauh; er glich nicht unseren gewöhnlichen Nüssen. Ich verwahrte ihn und wollte ihn dann dem Doktor zeigen, aber er ging verloren, ich habe ihn später nicht finden können.
Nun, wir schickten Jakob in das Seminar, und wie ich Ihnen schon mitgetheilt, erfreute er uns durch seine Fortschritte, so daß meine Frau und ich glaubten, es würde ein tüchtiger Mann aus ihm werden. Wenn er zum Besuche nach Hause kam, so war es eine Freude, ihn anzusehen, so anständig war er, jede Unart blieb ihm fremd. Allen gefiel er, alle wünschten uns Glück. Nur sein Körper war immer noch schwächlich und im Gesicht hatte er keine rechte Farbe. Er war neunzehn Jahre alt geworden, bald sollten seine Studien beendet sein, da erhielten wir plötzlich einen Brief von ihm. Er schrieb: »Väterchen und Mütterchen zürnt mir nicht. Gestattet mir, eine weltliche Laufbahn einzuschlagen, mein Sinn steht nicht nach dem geistlichen Stande, ich schrecke vor der Verantwortung zurück, ich fürchte mich vor der Sünde; Zweifel sind in mir rege geworden. Ohne Eure elterliche Einwilligung und Euren Segen werde ich nichts wagen, aber eins will ich Euch sagen, ich fürchte mich vor mir selbst; ich habe angefangen, viel zu grübeln.« Ich will Ihnen gestehen, gnädigster Herr, daß dieser Brief mich sehr betrübte; es war, als ob man mir das Herz mit einem Spieß durchbohrt hätte, denn ich sah, daß ich keinen Nachfolger in meinem Amte haben würde.
Der älteste Sohn war Mönch, und dieser wollte nun ganz aus seinem Stande heraustreten. Es war mir auch deshalb schmerzlich, weil beinahe seit zwei Jahrhunderten in unserem Kirchspiel Geistliche aus unserer Familie gelebt hatten. Doch ich dachte, es nützt nichts, gegen den Stachel zu löcken, es ist wohl so seine Bestimmung. Was ist das auch für ein Hirt, der Zweifel an sich herankommen läßt. Ich berieth mich mit meiner Frau und schrieb ihm folgendermaßen: »Mein Sohn Jakob, überlege ordentlich; erst gut bedacht und dann gethan, in der weltlichen Laufbahn trifft man große Schwierigkeiten, Hunger und Kälte und die Verachtung unseres Standes. Auch wisse im Voraus, daß niemand Dir eine hilfreiche Hand bieten wird; beklage Dich später nicht darüber. Meinen Wunsch kennst Du selbst, er war stets, daß Du mich einmal ersetzen solltest. Aber wenn Du wirklich an Deinem Beruf zweifelst und in Deinem Glauben schwankend geworden bist, so kommt es mir nicht zu, Dich zurückzuhalten. Des Herrn Wille geschehe! Deine Mutter und ich werden Dir unsern Segen nicht versagen.« – Jakob schrieb mir darauf einen Brief voll Dankes: »Väterchen, Du hast mich sehr erfreut, meine Absicht ist, mich dem Gelehrtenstande zu widmen, ich habe Protektion ich will zur Universität gehen und Arzt werden; denn ich fühle eine große Neigung für die Wissenschaft.« Ich las Jakobs Brief und wurde noch trauriger; aber bald theilte Niemand mehr meinen Kummer, meine Alte erkältete sich in jener Zeit sehr heftig und starb, ob in Folge dieser Erkältung; oder ob der Herr sie zu sich nahm, weil er sie liebte, ich weiß es nicht. Ich weinte und weinte; was sollte ich als einsamer Wittwer auch anders thun; so mußte es schon sein.
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