Marina Achenbach
Ein Krokodil für Zagreb
Roman
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2016
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2017
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Druck und Bindung:
Beltz Bad Langensalza
1. Auflage
ISBN 978-3-96054-033-5
Sekas Freunden
Sonne auf dem Pflaster, darauf zittern die Schatten der runden Blättchen eines Straßenbaums. Am Nebentisch eine heftige Bewegung, zwei junge Frauen rücken von der Wand ab. »Was ist das für ein Vieh? Sticht das?« Auf der Lehne ihrer Bank sitzt eine hellgrüne Heuschrecke. Der Begleiter der Mädchen erhebt sich, drückt eine Zigarettenschachtel flach und hält sie vor das kleine Tier. Die Heuschrecke glänzt in den späten Sonnenstrahlen. Er steht gebückt vor ihr, sie rührt sich nicht, seine Augen wandern verlegen umher. Da strecke ich den Arm aus zu ihnen hinüber und schiebe mit dem Zeigefinger die Springerin an, und sie faltet ihre Marionetten-Beine auf und steigt, als hätte sie darauf gewartet, auf die Pappe. Der Mann schüttelt sie unter dem Baum am Straßenrand ab, dreht sich um, sein Gesicht ist verzogen.
Als ich vier Stockwerke höher in mein Zimmer zurückkomme, dessen Fenster über den Cafétischen und den Baumwipfeln weit offen stehen, sitzt die hellgrüne Heuschrecke mit ihren vorsichtig kreisenden Fühlern und angelegten Flügeln, durchsichtig wie Wasser, auf meinem Tisch. Sie steigt sofort auf den Finger, den ich ihr hinhalte. Und während ich sie zum Fenster trage, beißt sie mir in die Haut am Nagelrand. Sie krabbelt auf das warme Zinkblech, hockt abflugbereit.
Am Abend tönen von der Straße die todmüden Trompeten balkanischer Musiker herauf, ich stelle mich ans Fenster, da springt die vergessene Heuschrecke aus dem Vorhang auf meine Schulter, dahin, wo der Hals anfängt, auf die nackte empfindliche Haut. Sie springt weiter auf das Fensterbrett, wartet dort auf etwas. Ich bringe ihr einen Tropfen Wasser, der sich rund wie eine Perle vor ihr aufwölbt, sie streckt den winzigen Kopf mit Augenpunkten und den kantigen Beißwerkzeugen vor und trinkt, ohne die Haut der zitternden Wasserperle zu zerstören. Und als hätte nur dieser Tropfen noch sein müssen, springt und fliegt sie leicht taumelnd hinaus in den Abend. Ich weiß, die Heuschrecke – das ist Ado.
Ado schaut in den Spiegel. Eine Reporterin des Zagreber Abendblatts ist ihm angekündigt.
Seka steigt in die Straßenbahn. Der Februartag ist grell vom weißen Sonnenlicht auf frischem Schnee. Die 20-jährige Reporterin hat ihrem Chef ein Interview mit dem Flüchtling aus Hitlers Deutschland abgerungen. Zuletzt nimmt sie die Steinstufen in die Oberstadt. In ihr bilden sich die ersten Sätze, ganze Dialoge, doch sie weiß nur eines: dieser Deutsche wird dem Zagreber Zoo ein Krokodil zum Geschenk machen. Mit seiner Geschichte möchte sie Mitgefühl für die Verfolgten wecken, denen die Flucht gelang, die aber das Königreich Jugoslawien nur unwillig über die Grenze hereinlässt.
Als seine Tür aufgeht, sieht sie den Mann mit Rasierschaum im Gesicht. Und er sieht, dass die Journalistin sehr jung ist. Sie schätzt ihn auf vierzig. Ihr Blick ist ernst unter hohen Augenbrauen, ihr geschminkter Mund ist fein geschnitten. Er entschuldigt sich vergnügt, spielt Verlegenheit und bietet ihr Platz auf einer Couch an. Sie setzt sich und wartet. Sie fühlt sich benommen.
Vor ihr baut sich ein Hund auf, seine Brust hell, Spucke hängt in Fäden links und rechts aus der breiten Schnauze, er starrt sie vor Erwartung schnaufend an. Etwas drückt von unten hart gegen ihr Bein. Unter der Couch schiebt sich ein Krokodilskopf hervor. Sie schreit nicht auf. Ado tritt aus dem Bad und sieht sie aufmerksam das anderthalb Meter große Krokodil beobachten, das sich auf seine Beine erhoben hat und vorantappt, hin zur angelehnten Balkontür.
Als wäre Seka in einem Märchen auf die Probe gestellt worden: Würde die verirrte Wanderin furchtsam um Hilfe rufen? Dann hätte sie die Probe nicht bestanden und müsste zurück in den Wald, in dem sie verloren gegangen ist. Doch wenn sie angstlos ist, was in Wirklichkeit heißt, reinen Herzens, wird ihr die Spur gezeigt, auf der sie den purpurfarbenen Vogel wiederfinden kann, der ihr als Kind entflogen ist. Es ist das Jahr 1938.
Die Augen über dem Schaum blassblau, aufmerksam, mit einer Beigabe von Staunen. Über den Augen seine hohe Stirn. Der nasse Rasierpinsel in der Hand, seine gespielte Verlegenheit. Die ausholende, aber wohlgeführte Geste, mit der er ihr das Glas Wasser reichte. Seka sieht es, während sie schreibt und die Splitter zusammenfügt, die Ado vor ihr ausgestreut hat: der breite Kindheitsfluss Main, die Theater, in denen er spielte, das Arbeiterstraßentheater in Berlin, die Flucht, als ein SA-Trupp an die Eisentür seiner Dachwohnung schlug und er durchs Fenster auf das Ziegeldach des Nachbarhauses kletterte und dann noch einmal zurückkroch, um das handgroße Krokodil, das er gerade erstanden hatte, zu greifen. Mit erzwungener Ruhe durch das fremde Treppenhaus Etage für Etage hinuntergehen, hinaus auf die Straße und ohne Verzug zum Anhalter Bahnhof, eine Fahrkarte nach Prag kaufen, als wäre es eine normale Reise. Das Krokodil unter seinem Hemd. Es kratzte ihn. In Prag kamen jeden Tag Flüchtlinge aus Deutschland an, die Stadt füllte sich mit ihnen, sie hungerten. Weiter nach Jugoslawien zum Freund Dr. Klapper, der auf seinen Flucht-Irrwegen das dalmatinische Fischerdorf Zaton Mali gefunden hat. Hier in der warmen Luft fängt das kleine Krokodil an zu wachsen. Seka ist noch nicht gesättigt von den Erzählungen, ist begierig auf Ados Sprechen. Auf seinen Blick.
Für dieses Jahr ist die Hochzeit mit ihrem Verlobten Fred vorgesehen. Er ist der künftige Erbe einer Glühbirnenfabrik, der einzigen in Jugoslawien. Es ist eine vernünftige Ehe, die Eltern haben sie vorausgedacht, und die beiden bejahen die Idee, denn auch sie denken sich die Ehe als einen zuverlässigen Raum. Sie würden sie großzügig, ohne Zwänge leben, anders als ihre Eltern. Fred würde Seka nie an tagelangen Ausritten in die bosnischen Berge hindern und nicht an Ausflügen mit ihren Freundinnen und Freunden nach Venedig, dem Ort der kleinen Fluchten, wo sie die Versprechen und Verlockungen der Moderne auskosten. Wo sie lieben dürfen, wen sie wollen. Ein Haus für das Paar wird von einem avantgardistischen Architekten entworfen, es blickt mit hohen Fenstern auf die Stadt hinab, Fred fährt jeden Mittag zur Baustelle, er fragt sie, welche Zimmer sie haben möchte. Seka hebt ihre flügelartigen Schulterblätter.
Die Mutter hört sich beim Abendbrot die Geschichte von Ado von Achenbach, dem Emigranten mit Krokodil, und seinem Freund Dr. Klapper an, sie ist eine wohltätige Dame und Vorsitzende des Roten Kreuzes in Zagreb und beschließt, diesen Flüchtlingen zu helfen: »Laden wir ihn und seinen Freund doch zum Mittagessen ein.« Seka schreibt eine Karte, Ado ruft freudig an, sie horcht auf sein umständliches Kroatisch. Mittags kommt sie aus der Redaktion zum Essen, bringt auch den Chefredakteur mit, der wie die Mutter neugierig auf die Deutschen geworden ist. Das Zagreber Bürgertum pflegt seine Rituale der Gastfreundschaft. Die Mutter sitzt schon mit den zwei Männern beim Aperitif, sie reden und lachen. Sind sie beschwipst?, fragt sich Seka. Ein lebhaftes, vergnügtes Mittagessen. Seka kehrt mit dem Chefredakteur zur Zeitung zurück. Die beiden Emigranten bleiben. Am nächsten Tag verkündet die Mutter leichthin: »Ich verreise für 14 Tage mit Herrn von Achenbach nach Makarska.«
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