»Hm. Das muss wahrhaft unglaublich sein. Klingt nach magischen Momenten, Erfahrungen, die einzigartig sind. Wie oft verzichten wir doch darauf, die Seite unseres Selbst auszuleben, die uns bei anderen unbeliebt machen könnte! Weil wir gut erzogen sind, niemanden verletzen und immer Teil des Ganzen bleiben möchten, geliebt und anerkannt. Und verpassen dabei so viel. Manchmal gar das, was wir Leben nennen würden!«
Theo öffnete ein Auge und zog die dazugehörige Braue fast bis zum Haaransatz. »Aha. Bei dir?«
»Ich werde Medizin studieren, aber die Praxis meines Vaters wollte ich nie übernehmen! Jeden Tag dieselben Leute. Sie zu heilen ist nur selten eine Herausforderung. Es geht nicht um den Durchbruch in der Herzchirurgie, sondern um das Pinseln von Hautpilzen! Das Verschreiben von Pülverchen gegen Kopfschmerz! Nein, das ist wie Stillstand im Alter von Mitte 20! Ohne das Potenzial für Entwicklung. Meine Träume sind von deinen gründlich unterschieden, aber mit meinem geplanten Schicksal als Arzt auf dem Lande haben sie nichts gemein.«
»Und? Wie sieht deine Planung für die nächsten – sagen wir – 60 Jahre aus, könntest du frei entscheiden?«
Ludwig lachte leise. »60?«
»Nun, wenn wir von einem weiteren Krieg verschont bleiben, weil die Menschheit unerwartet klug geworden ist, so könnte das klappen. Mit ein bisschen Glück haben ja alle aus den letzten Jahren gelernt und stürzen unsere Generation nicht noch einmal in solch eine Katastrophe. Dann kann unser Lebensfaden sich ungestört ausspannen und wird nicht unerwartet gekappt!«
»Meine nächsten 60 Jahre also«, begann Ludwig versonnen. »Gut. Studieren wollte ich schon – entweder Medizin und Pharmazie oder Politik. Im ersteren Fall wäre es mein Traum gewesen, neue Medikamente zu entwickeln, die gegen viele der Erkrankungen helfen, an denen heute noch überall gestorben wird. Methoden zu finden, die Leben retten. Als Arzt auf dem Dorf? Der Durchbruch gegen Infektionskrankheiten, die Entdeckung, die die Welt verändert, wird im winzigen Labor meines Vaters gemacht? Hinter dem Sprechzimmer? An einem Sonntag nach der Kirche, wenn alle zu Tisch sind und niemand einen Arzt braucht? Mit der alten Laborausstattung? Nein, das wird niemals wahr!« Er boxte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. »Niemals!«, spuckte er dann zornig.
Beide schwiegen lang, hingen ihren Gedanken nach.
Als Theo die Wortlosigkeit nicht mehr ertragen konnte, wollte er wissen: »Und wenn du Politik studieren dürftest?«
Ludwig war noch immer blass vor Zorn, hatte seine Stimme aber wieder unter Kontrolle. »Politik hätte mich wirklich interessiert. Was passiert, wenn? Das war ja nun schließlich die entscheidende Frage im Krieg – es hätte vielleicht nicht soweit kommen müssen. Um Verwicklungen zu erkennen und rechtzeitig reagieren zu können, brauchen Regierungen besonders fähige Menschen, die in aller Welt für sie unterwegs sind. Geheimagenten. Die sich überall auskennen, schnell eine Geschichte erfinden können, überzeugend auftreten und doch unerkannt zwischen den anderen leben und arbeiten! Ja, das wäre meine Sache! Ein geheimes Dasein, jeder Tag wäre ein Abenteuer, das man überstehen muss. Nach einigen Jahren wird man abberufen und kann ein normales Leben führen. Dann wollte ich heiraten und eine Familie gründen. Mit vier – nein – besser sechs Kindern! Damit ihnen erspart bleibt, was uns nun mit voller Härte trifft. Nur weil wir die einzigen Nachkommen sind, müssen wir, was wir partout nicht wollen! Den Traum der Eltern weiterleben, unseren eigenen vergessen!«
»Es ist unglaublich ungerecht!«
»Ja. Und doch nicht zu ändern. Wenn wir es nicht tun …«
Sie brüteten wieder vor sich hin, starrten auf die Leine, die träge an ihnen vorbeifloss, und seufzten gelegentlich.
»Du denkst an Heirat und Kinder? Das liegt mir gerade im Moment nicht so im Sinn. Seit Sabine … Die Lust aufs Weibervolk ist mir vorerst gründlich vergangen«, knurrte Theo unvermittelt.
»Nun, betrogen zu werden, ist sehr schmerzvoll. Aber glaub mir, es wird schwächer, und am Ende juckt die Narbe nur noch selten.«
»Du? Du kennst das auch?«
»Zur Genüge. Wir sollten aufhören zu jammern und lieber die verbleibende Zeit genießen.«
»Du hast recht. Bevor uns unsere Eltern um die Erfüllung unserer Wünsche und Träume für die nächsten 60 Jahre betrügen!«
1924 Pfingsten Presseclub Falkennest
Die Journalisten hatten sich wie üblich um den großen Tisch versammelt, jeder ein Bier vor sich und eine Decke aus Zigarrenqualm über den Köpfen als Beweis für rege Diskussion.
»Jetzt greifen die Bürger auf der ›Insel‹ schon zur Selbsthilfe! Ist doch wirklich nicht zu fassen, dass die Polizei so träge reagiert. Kommt ja gar nicht recht in Schwung!« Der Pirat schlug mit der Faust auf den Tisch, und die anderen umklammerten schnell ihre Biergläser. Zur Sicherheit. »Am 17. Mai der erste und nun? Immer mehr Schädel! Ein ganzer Sack voller Knochen. Schulterblätter und anderes! Und jetzt fischen die Leute sogar mit Netzen Knochen aus dem Fluss! Von offizieller Seite – kein Einsatz!«
»Wenn man mit den einfachen Netzen und Rechen schon viele Knochen herausfischen kann, möchte ich gar nicht wissen, was man ans Licht beförderte, könnte man sich dazu entschließen, den Pegel der Leine abzusenken!«, murmelte Richard bedrückt, sah blass und krank aus. »Ich glaube, die Leute haben recht. In der Stadt haust das Böse. In irgendeiner Ecke hat es sich verkrochen und sieht uns zu, wie wir immer deutlichere Spuren von ihm finden und ihm doch keinen Schritt näherkommen. Womöglich lauert es schon auf sein nächstes Opfer. Grässlich!«
»Bisher ist nicht klar, wie all die Knochen in die Leine gelangt sind. Gibt ja mehrere Erklärungsansätze.«
»Keiner bewiesen! Keiner auch nur annähernd stichhaltig!«, maulte Ahab.
»Mörder? Ist auch nicht bewiesen.«
»Und erst heißt es, wenn überhaupt Mord, dann sind die Schädel sicher von weiblichen Opfern, dann stellt sich raus: Schädel junger Männer! Männerköppe. Und sogar einer von einem Knaben!« Richard sprach eindringlich. »Es ist die Pflicht der Presse – und daher auch des Journalisten – die Menschen umfassend zu informieren und zu warnen!«
»Lass mal gut sein. Zu viel der Warnung ist schlecht, das macht die Leute bloß wuschig und hysterisch. Sind doch eh schon viele durch den Wind.« Ahab nahm einen kräftigen Schluck, stellte den Bierkrug hart ab. »Und Polizeischelte hat noch nie was anderes gebracht als Ärger. Am Ende sind bloß alle beleidigt, und unsere Quellen sprudeln nicht mehr. Jeder meidet den Kontakt mit der Presse, die Informanten verdrücken sich um die nächste Ecke, kaum dass sie uns kommen sehen. Ne, das ist keine gute Idee. Wirklich nicht.«
»Verantwortung? Schon mal gehört?«
»Die hast du auch für die Reaktion auf deinen ›Aufklärungsartikel‹, oder nicht? Wenn dann alle kopflos durch die Stadt rennen, jeder jeden verdächtigt, geht das auf deine Kappe! Das nenne ich nicht verantwortungsbewusst.«
»Ach was! Die Wahrheit muss ans Licht! Denk nur an die vielen Familien, die nach ihren Kindern suchen! Die wollen wissen, warum alle untätig geblieben sind.« Richards gramvolles Gesicht bekam einen entschlossenen Zug. »Ich hoffe, mein Artikel kommt auf die Titelseite. Vielleicht drucken wir sogar ein Extrablatt!«
»Nur Männerköppe. Könnte ja bedeuten, dass man den Mörder unter den Homosexuellen suchen muss. Damit wären die meisten Männer in der Stadt außer Verdacht – oder?«, meinte der Pirat und guckte in die Runde. »Ich mein ja nur. Die Szene ist nun wirklich nicht unüberschaubar. Sicher, in der letzten Zeit sammeln sich immer mehr hinter dem ›Kröpke‹, aber dort könnte die Polizei eigentlich ganz gut ansetzen. Wenn wir das schreiben, dann fangen sie vielleicht endlich mit ernsthaften Ermittlungen an!«
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