Florians Blick verriet, dass er anderer Meinung war. Er biss sich auf die Unterlippe und ließ Jessica nicht aus den Augen. »Schade, dass du keine solche typische Hamburger Tracht besitzt. Die sieht so schön streng aus. Du würdest darin wirken wie eine strenge Lehrerin. Eine sexy strenge Lehrerin.«
»Und das würde dir gefallen?« Jessica klang amüsiert und entsetzt zugleich, lachte aber, als Florian eifrig nickte.
»Zieh doch das Dirndl noch einmal für mich an. Nur ganz kurz. Nur, bis wir im Schlafzimmer sind. Bitte«, flehte er und schaute treuherzig zu ihr hinüber.
»Du bist unmöglich«, schimpfte Jessica gespielt empört. »Ich verrate dir etwas: Ich habe tatsächlich eine norddeutsche Tracht. Die ziehe ich jetzt an und dann schauen wir mal, wie es so um deine Algebra und deine Grammatik bestellt ist.« Sie verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal zu ihm umzusehen.
Als sie kurz darauf das Wohnzimmer wieder betrat, erwartete sie, dass Florian vor Lachen vom Sessel kippen und sich nicht mehr einkriegen würde.
Doch ihr Freund saß noch genauso ruhig auf dem Sessel, wie sie ihn verlassen hatte, und musterte sie von oben bis unten. Er sah aus, als wäre er nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen, denn er rührte sich keinen Millimeter und atmete flach. Sein Blick hatte etwas Lauerndes.
»Und? Gefällt dir meine norddeutsche Tracht? Hochgeschlossen – wie ich gesagt habe«, plapperte Jessica drauflos und zwinkerte ihm erneut zu. »Aber streng finde ich das eigentlich nicht.«
Es vergingen einige Sekunden, bevor er auf ihre Frage reagierte.
»Was trägst du drunter?«, wollte er wissen, beugte sich vor, rieb seine Hände an dem Jeansstoff seiner Oberschenkel und ballte sie zu Fäusten. Jetzt hielt er die Luft an. Er sah aus wie ein wildes Tier, das sich zum Angriff bereit machte.
»Nichts«, sagte Jessica leise. »Siehst du – absolut nichts!« Mit einem Ruck riss sie alle silbernen Druckknöpfe an ihrem quietschgelben Friesennerz auf einmal auf und präsentierte Florian dieses Nichts mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Das Erste, was Florian dachte, als er am späten Sonntagmorgen das Präsidium betrat und in seinem Büro den Besitzer des Baschtl-Bräu begrüßte, war, ob alle Brauerei-Inhaber so gut aussahen. Der Mann vor ihm trug eine beige Sommerhose, ein luftiges dunkelblaues Hemd mit kurzen Ärmeln, teure Schuhe und eine goldene Armbanduhr. Außerdem hatte er dieses smarte Aussehen eines Hollywoodschauspielers der 60er-Jahre.
Seine Kollegen hatten den Mann direkt am Flughafen abgepasst und hergebracht. Er wirkte beunruhigt, machte aber trotzdem einen souveränen und selbstbewussten Eindruck.
»Wer ist denn nur der arme Mann, den Sie in meiner Brauerei gefunden haben, Herr Hauptkommissar? Ihre Kollegen waren leider nicht sehr auskunftswillig.« Sebastian Lenz, der Brauerei-Inhaber, der seinem Aussehen nach unter 40 Jahre alt war, setzte sich ungefragt auf den Besucherstuhl an Florians Schreibtisch und blickte erwartungsvoll zu ihm auf.
Florian ging um den Schreibtisch herum und setzte sich ebenfalls. »Leider kann ich Ihnen auch nicht mehr sagen, Herr …«, er schaute auf die Notizen vor sich auf dem Tisch, »Herr Lenz. Haben Sie eventuell eine Idee, wer die Person sein könnte?«
Der Brauereibesitzer schüttelte bedauernd den Kopf. »Da fällt mir absolut niemand ein. Tut mir leid. Ach, es ist furchtbar. Wer macht denn so etwas Grausames?«
»Vermutlich jemand, der Sie nicht mochte. Immerhin hat der Täter Ihnen einen großen finanziellen Schaden zugefügt. Gibt es jemanden, der Ihnen Ihren Erfolg neidet? Oder der Sie aus persönlichen Gründen nicht mag? Es muss nicht direkt mit Ihrem Geschäft zu tun haben.«
»Ja, dieser Vorfall ist bitter für die Brauerei. Ich hoffe, wir schaffen es, das Vertrauen der Kunden zurückzugewinnen. Wir sind erst seit ein paar Monaten in der Region und haben einige neue Kunden. Es wird wohl schwierig werden, diese Kunden zu halten. Und vertuschen lässt sich die Sache kaum mehr bei all den Zeugen auf dem Sommerfest. Herrgott, das ist wirklich tragisch und wird mir finanziell das Genick brechen – vermutlich«, sinnierte Lenz, ohne dabei jammernd oder bemitleidenswert zu klingen. Er analysierte seine Situation realistisch und neutral.
»Aber wer will Ihnen schaden?«, erinnerte Hauptkommissar Forster den Brauereibesitzer an seine letzte unbeantwortete Frage.
»Niemand«, kam es spontan von Herrn Lenz, bevor er seine Stirn in Falten legte und auf einen Punkt an der Wand hinter dem Hauptkommissar starrte. »Natürlich habe ich Konkurrenten. Meine recht junge Brauerei hat den alteingesessenen zwar den einen oder anderen Kunden abspenstig gemacht, doch ich kenne die Besitzer der umliegenden Brauereien, und keiner von denen würde einen Menschen töten. Wirklich nicht!«
»Geben Sie mir bitte trotzdem die Adressen der Brauereien und die Namen der Inhaber«, sagte Florian, bevor er sich einige Notizen auf einem losen Zettel machte. »Wir wissen noch nichts Genaues über den Todeszeitpunkt. Fest steht jedoch, dass die Leiche ins Bier geworfen und mitgekocht wurde. Sie lag bei der späteren Reinigung bereits im Sudkessel. Deshalb vermuten wir als Todeszeitpunkt den 21. Juni, Sommeranfang. Wo waren Sie denn, als dieser spezielle Sommersonnenwend-Sud eingebraut wurde?«
»Das war kein Bier, in dem die arme Person mitgekocht wurde, sondern Würze. Entschuldigen Sie, Herr Hauptkommissar Forster, aber ich als Braumeister kann so etwas nicht unkorrigiert lassen«, belehrte ihn Lenz. »Bier ist es erst später, wenn die Hefezellen –«
»Herr Lenz«, unterbrach Florian Forster den erneuten Monolog des Brauereibesitzers unwirsch. »Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt, den ich Ihnen eben genannt habe? Oder war Ihr Kollege Hubertus für diesen besonderen Sud ganz allein zuständig?«
»Weder noch«, gab Lenz bereitwillig Auskunft. »Wir hatten beide Urlaub. Meinen Angestellten hatte ich bereits eine Woche vor dem besagten Sud in den Urlaub geschickt mit der Bitte, das Sommerfest ein paar Wochen später allein zu managen. Ich selbst flog am folgenden Tag nach Thailand.«
»Und wer bitteschön hat dann das Bier gemacht?«, wollte der Hauptkommissar wissen, machte sich weitere Notizen auf seinen Zettel und wartete ungeduldig auf eine adäquate Erklärung.
»Der Computer«, antwortete Lenz und lächelte überheblich. »Ich hatte ihn so programmiert, dass alles von allein lief. Über meinen Laptop konnte ich noch am Flughafen München sehen, dass alles vernünftig eingestellt ist und sich keine Fehler eingeschlichen haben. In Phuket, Thailand, habe ich dann Tage später das Ergebnis überprüft. Mit dem Sud war alles in Ordnung. Keine Fehlermeldung. Ansonsten hätte Markus kommen und manuell eingreifen müssen. Doch das war, wie gesagt, nicht nötig.«
»Verstehe. Also hat in dieser Zeit – in über drei Wochen – niemand nach Ihrer Brauerei geschaut?«
»Ich gebe zu, das war ein großes Risiko, denn der Gärprozess müsste durchaus täglich überprüft werden. Ich habe so etwas auch noch nie zuvor riskiert, aber es ging nicht anders. Der Urlaub sollte meine Ehe retten, den musste ich nehmen. Und meistens geht mit den Suden alles gut. Auch dieses Mal – dachten wir. Markus hat mir vor ein paar Tagen per Mail geschrieben, dass alles reibungslos funktioniert hat. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten wir für das anstehende Fest auf Lagerbestände für den Ausschank zurückgegriffen. Aber das Bier war perfekt.«
»Trotz der zersetzten Leiche im Sudvorgang?« Florian rümpfte die Nase und sah den Brauereibesitzer entsetzt an. »Gibt es nicht irgendwelche Messwerte, die durch einen mitgekochten Körper von der Norm abweichen?«
»Herrgott, das weiß ich nicht. Damit habe ich absolut keine Erfahrung, wie Sie sich denken können. Hätte ich gewusst, dass wir einen Menschen mitgekocht haben, dann hätte ich den kompletten Sud in den Kanal gelassen, das können Sie mir glauben, Herr Hauptkommissar. Doch sensorisch war alles perfekt. Das hat jedenfalls Markus gesagt, und der ist ein erfahrener Braumeister, dem ein Fehlgeschmack durchaus aufgefallen wäre.« Der smarte Brauereibesitzer Sebastian Lenz lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Dann lächelte er verlegen.
Читать дальше