Die Kontoauszüge der Eheleute wiesen zwar monatliche Rentenbezüge auf und einen kleinen Betrag, der sich als Mieteinnahme einer Wohnung in Fuhlsbüttel entpuppte, aber alles in allem war das Ehepaar nicht reich. Bis auf ihre Eigentumswohnung in Blankenese und die kleine vermietete Wohnung hatten die beiden keinerlei Ersparnisse. Auch der Urlaub war nicht zufällig. Herr Guggenmoos war gebürtiger Allgäuer und besuchte einmal im Jahr das Grab seiner Eltern in Missen. Er hatte einen Bruder, eine Schwägerin und zwei Neffen, die sein Elternhaus in Börlas bewohnten.
Der Hamburger Hauptkommissar Lübke hatte gute Arbeit geleistet und Jessica sämtliche Erkenntnisse, Adressen und Bankdaten im Anschluss an ihr Telefonat sofort gefaxt.
»Mein aktueller Fall macht mich fertig«, begann Jessica beim gemeinsamen Abendessen mit Florian. »Wir haben überhaupt keine Anhaltspunkte. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen und die Ehefrau ist nach wie vor verschwunden.« Sie schob ihren halb vollen Teller beiseite, verschränkte die Arme über dem Kopf und lehnte sich zurück.
Die Kinder waren zusammen mit ihrem Vater seit zwei Tagen in Hamburg. Florians Mutter Maria, die bei ihnen im Haus lebte, machte zusammen mit ihrer Freundin eine mehrwöchige Kreuzfahrt. Sie hatten sie heute gemeinsam zum Münchener Flughafen gebracht. Nun waren sie in dem alten Stadthaus für die nächsten Wochen allein.
»Mir geht es ähnlich. Isst du das nicht mehr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, griff Florian nach Jessicas Teller und schob die Reste mit der Gabel auf seinen eigenen hinüber. »Ein gutes Rumpsteak darf man nicht verkommen lassen.«
»Ich bin kurz davor, den Suchradius auszuweiten. Die nähere Umgebung des Hotels in Missen haben wir bereits abgesucht, aber von der Frau fehlt jede Spur.« Sie seufzte erneut. »Ich hasse es, wenn ich keine Ideen mehr habe.«
»Glaubst du, die Frau ist auch tot?«
Jessica zuckte mit den Schultern.
Florian schob sich das letzte Stück Fleisch in den Mund, legte sein Besteck auf dem Teller ab und wischte sich wenig galant den Mund mit dem Handrücken ab. »Und wenn sie doch die Täterin ist?«
»Vielleicht. Aber warum? Ich finde einfach kein Motiv.«
»Eifersucht? Die beiden waren lange verheiratet. Eventuell hat er sie mit der Zeit so genervt, dass sie es nicht mehr ausgehalten hat. Oder er hat sie schlichtweg betrogen. Oder sie ihn«, tippte Florian, doch er verstand zu gut, wie ärgerlich es war, wenn man kein Motiv fand und nur spekulierte, was der Grund für einen Mord sein konnte.
»Wie sieht es denn bei dir aus?«, wollte Jessica wissen. »Habt ihr den Mann aus dem Sudkessel identifizieren können?«
»Nein, aber Ewe ist es tatsächlich gelungen, die DNA zu bestimmen.« Florian klang begeistert, als er ausführlich berichtete, was er inzwischen wusste. »Der tote Körper des Mannes hat mehrere Stunden in warmer Maische gelegen. Im Anschluss wurde er über zwei Stunden bei etwa 80 Grad gekocht und danach sorgte die Reinigungslauge endgültig dafür, dass die Knochen blitzblank waren und die Haut und die Organe sich fast komplett aufgelöst haben. Und trotz alldem haben Ewe und die Labortechniker im Rückenmark noch intakte DNA gefunden. Faszinierend, oder?«
»Aber ihr habt keine Vergleichsprobe, nicht wahr? Wird denn jemand vermisst, auf den die Angaben passen?« Jessica stand auf und begann die Geschirrspülmaschine einzuräumen.
»Das ist mein Problem«, gestand Florian. »Keine passenden vermissten Personen, die DNA nicht im System, nirgends Fingerabdrücke. Die ganze Brauerei war klinisch rein. Außer von Markus gab es keine Spuren. Fingerabdrücke von Herrn Lenz haben sie dagegen nur im Büro gefunden.«
»Meinst du, es war Markus?« Jessica drehte sich zu ihrem Freund um und sah ihn durchdringend an.
»Nein, nicht Markus. Sein Entsetzen war nicht gespielt, als er die Leiche gefunden hat. Aber ich habe noch ein weiteres Problem.« Er stand auf und griff nach der Pfanne, die noch auf dem Herd stand. Dann legte er sie in die Spüle und goss eine große Portion Spülmittel darauf.
»Was für ein Problem?« Jessica schloss die Klappe der Spülmaschine und schaltete das Gerät an.
»Ewe sagt, er habe nicht alle Körperteile gefunden. Es fehlen zwei Finger und ein kompletter Fuß. Wir haben alles abgesucht.«
»Oh je. Vielleicht hatte der Mann schon vor seinem Tod nur noch drei Finger«, sagte Jessica. »Könnte doch sein.«
»Nein, laut Ewe nicht. Die Finger sind eindeutig post mortem abgetrennt worden, wie der Fuß. Vermutlich durch das Mahlwerk im Kessel. Wann genau, also in welchem Prozess der Bierherstellung, kann man kaum sagen. Deshalb ist es schwierig zu bestimmen, ob die Teile im Treber, im Tank oder im Kanal gelandet sind. Ewe vermutet, dass es bereits vor dem Reinigungsvorgang passiert ist, weil die Bruchstellen am Knochen von dem aggressiven Reiniger ebenso stark angegriffen sind wie die restlichen Knochen, aber sicher ist er sich nicht. Wenn es so wäre, würde der Kanal wegfallen.«
»Hat man das kontaminierte Bier inzwischen nicht auch in den Kanal entsorgt?«, fragte Jessica verwirrt. »Das muss doch vernichtet werden.«
»Natürlich muss es das. Es soll Anfang nächster Woche kontrolliert aus dem Tank durch einen Filter abgelassen werden, um die eventuellen Knochenreste aufzufangen. Diesen Filter habe ich heute organisiert. Ich hoffe, er kommt morgen oder übermorgen an.«
»Verstehe. Da haben wir ja beide richtig Glück mit unseren Fällen. Scheinbar unlösbar bringt doch am meisten Spaß, oder?«
Hauptkommissar Forster stieg auf der Beifahrerseite des Streifenwagens aus, hielt kurz inne und rieb sich mit zwei Fingern seiner rechten Hand über die Augen.
»Soll ich allein hineingehen, Chef?«, bot Berthold an, schloss die Fahrertür und wartete, dass Florian seine Tür zuschlug, damit er das Fahrzeug mit dem Funkschlüssel verriegeln konnte.
Als der Hauptkommissar sich nicht rührte, ging Berthold um den Wagen herum und hielt seinem Vorgesetzten den Schlüssel entgegen. »Setz dich einfach wieder rein. Ich schaff das schon allein«, sagte er und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.
»Ich komme mit«, beschloss Florian, ließ die Tür los, an der er sich festgehalten hatte, schwankte kurz und lehnte sich rückwärts gegen den Streifenwagen. »Gib mir eine Minute, Berthold.«
Ihre Befragung der Brauereibesitzer in der Umgebung des Baschtl-Bräu hatte er sich einfacher vorgestellt. Im direkten Umfeld des Tatortes gab es vier weitere Brauereien, die nach Aussage des Brauerei-Inhabers Lenz alle einige Kunden an ihn verloren hatten. Bei den Kunden handelte es sich um Gastwirtschaften, kleine Hotels und Pensionen, die ihr Bierangebot aufgrund der günstigeren Konditionen der Baschtl-Bräu-Brauerei in den letzten Jahren umgestellt hatten. Zwei Getränkemärkte in Immenstadt und Sonthofen hatten das Bier zwar ins Sortiment aufgenommen, doch ob es die anderen Biere verdrängte oder nur ein zusätzliches Angebot für die Kundschaft darstellte, konnte ihm weder Sebastian Lenz noch einer der drei bisher befragten Braumeister sagen. Dafür war das Baschtl-Bier in dieser Gegend noch nicht lange genug auf dem Markt. Um eine Antwort darauf zu bekommen, müsste er vermutlich in besagten Supermärkten direkt nachfragen, aber das schien Florian etwas übertrieben.
Die frische Luft tat ihm gut.
Unmittelbar an der Hauptstraße, die sich durch das Dorf schlängelte, stand das graue Gebäude mit der riesigen Glasfront an der Westseite. Gleich daneben diente ein steinerner Torbogen als Einfahrt. Er war zu einer Zeit gebaut worden, als noch Kutschen das Bier abholten. Die großen Sattelschlepper und Biertransporter von heute passten nicht durch das Steintor. Für sie gab es eine weitere Einfahrt etwa 50 Meter weiter hinter dem Gebäude.
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