»Danke, dass sie mir den Rücken stärken. Doch was mache ich mit meiner Tochter? Ich kann sie doch nicht länger belügen. Daniel war vorhin schon soweit, irgendetwas Unüberlegtes zu tun. Ich glaube, er hatte in diesem Moment einfach genug von dem Versteckspiel – ohne an Konsequenzen zu denken. Ich konnte ihn gerade noch auf morgen vertrösten.«
Anka nickte verständnisvoll.
»Gerade deshalb müssen Sie es Ihrer Tochter sagen. Damit der häusliche Frieden nicht zerbricht. Ihre Tochter ist dreizehn, wie sie erwähnten. Ein dreizehnjähriges Mädchen kann das verstehen. Was sie daraus macht, ist allerdings ein anderes Kapitel. Versuchen Sie, ihr nahezulegen, was es für Daniel bedeutet! Ich denke, sie möchte auch das Beste für ihren Bruder.«
Barbara seufzte. Das Leben forderte sie wirklich heraus.
Die Lehrerin fuhr fort: »Und Ihrem Mann dürfen Sie es auch nicht vorenthalten. Erstens ist es der Vater von Daniel, und zweitens ergeben sich für die Zukunft Situationen, in denen auch sein Einverständnis nötig ist. Daniel ist ja noch minderjährig.«
›Auch das noch‹, dachte Barbara. ›Wenn das Schicksal zuschlägt, dann richtig.‹
Es war nach neun, als Barbara wieder nach Hause kam. Die Unterredung mit der Vertrauenslehrerin war sehr hilfreich gewesen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Und ihr war auch klar, dass sie diese Hilfe noch einige Male brauchen würde.
Für heute war es zu spät für weiteren Trubel. Nur ihren Sohn wollte sie noch informieren, wie das Treffen ausgegangen war. Sie klopfte an seine Tür.
»Daniel, darf ich?«
»Ja, komm rein!«
Daniel saß an seinem Tisch. Der Computer war an, ein Textprogramm geöffnet.
»Arbeitest du an etwas?«, fragte seine Mutter mit einem Nicken zum Bildschirm hin.
»Ja. Ich versuch, meine Gedanken etwas zu ordnen. So eine Art Tagebuch der Grausamkeiten.«
Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
Barbara setzte sich auf den angestammten Platz auf der Liege.
»Finde ich gut. Aber nenn es lieber ›Tagebuch einer neuen Zeit‹ oder so. Denn nichts, was mit dir geschieht, ist grausam. Es ist nur neu und ungewohnt. Und du wirst eine Menge lernen müssen. Auch wirklich schlimme Erfahrungen können da vorkommen. Doch wenn du dir sicher bist, überwindest du die.«
»Warst du bei Frau Richter?«
»Ja, und ich bin erleichtert, dass ich das getan habe. Deine Vertrauenslehrerin wird uns helfen, alles richtig zu machen. Du kannst ruhig zu ihr gehen, wenn du mal nicht weiter weißt. Sie behält alles für sich.«
Barbara bemerkte, dass auch Daniels Anspannung etwas nachließ. Sie konnte sich vorstellen, dass da einige Mauern einstürzten, die ihn gefangen gehalten hatten.
»Und was wird mit Ilsa? Das heute hat einfach nur genervt.«
»Tja, Frau Richter meint, wir müssen es ihr sagen, und zwar möglichst bald.«
Daniel zuckte zusammen.
»Dann sagt sie es Caro, und wenn das so weitergeht, kann ich gleich einen Aushang machen.«
Seine Mutter wusste, was jetzt kommen musste.
»Ich kann das verstehen. Aber schau mal – du willst doch nicht die ganze Zeit in deinem Zimmer hocken bleiben. Und was wird im neuen Schuljahr? Wenn du dich für diesen Weg entscheidest, dann musst du ihn auch draußen, in der ›bösen Welt‹ vertreten. Alle, die das verstehen, werden dir helfen – gegen jene, die das nicht verstehen wollen. Und ich denke, mit der Zeit werden die ersteren immer mehr werden.«
Daniel seufzte laut.
»Es wird eine schwere Zeit werden, nicht wahr, Mama?«
»Ja, aber es wird auch eine schöne Zeit sein, weil du endlich, Stück für Stück, der Mensch wirst, der du wohl schon lange sein wolltest.«
»Schon sehr lange. Und ich glaube, ich habe mich fast entschieden. Danke. Hab dich lieb, Mama.«
Barbara stand langsam auf. Sie war froh, dass Daniel aus seinen düsteren Gedanken heraus gefunden hatte. Sie hatte ihm die Hand gereicht, und er hatte zugegriffen.
Als sie dann allein im Wohnzimmer saß, dachte Barbara nach. Loslassen konnte so wehtun. Sie musste ihren Sohn gehen lassen, um ihre zweite Tochter zu empfangen. So etwas passiert einem nicht alle Tage. Den meisten Menschen passierte so etwas überhaupt nicht. Deshalb konnten sich Unbeteiligte wohl auch kein Bild davon machen, was sie jetzt fühlte. Sie selbst kannte ja auch nur den Moment. Über die nächste Zeit musste sie sich erst Klarheit verschaffen. Vielleicht war Daniels Idee von einem Tagebuch gar nicht so schlecht. Sie sollte selbst ihre Gedanken niederschreiben, um einmal später nachlesen zu können, wie mühsam dieser Weg gewesen war. Und um zu erfahren, wie sie alle ihn gemeistert hatten.
Sonntagmorgen. Die Sonne schien, als wolle sie den Kindern besonders schöne Ferien schenken. Nur ein paar kleine Schäfchenwolken schwebten wie weiße Tupfen am blauen Himmel.
Ilsa hatte gleich nach dem Frühstück die Badesachen geschnappt und war verschwunden. Barbara rief ihr noch nach: »Denk daran, pünktlich zum Mittagessen zurück zu sein! Heute Nachmittag ist doch die Grillparty bei Caro.«
Aber sie konnte sicher sein, dass Ilsa die nicht vergessen hatte.
Barbara war froh, einige Zeit allein zu sein. Daniel würde wohl erst später aufstehen. Er hatte am Abend sehr müde ausgesehen.
Im Wohnzimmer war das Radio angestellt. Leise rieselte Musik von da in die Küche. Ein Glas Milch stand vor der Mutter. Die Sachen auf dem Zettel hatte sie nachgekauft, jetzt nahm sie einen Schluck von dem kühlen Getränk.
Gestern, spät am Abend, hatte sie eine Entscheidung für sich getroffen. Sie musste sich daran gewöhnen, dass Daniel zukünftig als Mädchen behandelt werden wollte. Er hatte ja selbst geäußert, dass er sich ziemlich sicher sei. Barbara hatte versucht, diesen Gedanken, dieses Bild in ihrem Gehirn festzuhalten. Das geschah auch wegen Daniel. Sie wollte sich alle Mühe geben, ihn nicht mehr in der bisherigen Form anzusprechen. Aber wie sollte sie ihn – oder sie – dann nennen? Das sollte sie schon von ihrem Kind erfahren.
Weiter hatte sie beschlossen, dass Ilsa heute nach der Grillparty eingeweiht werden sollte. Sie musste nur noch klären, ob das allein geschehen würde oder in Anwesenheit ihrer ›großen Schwester‹. Und sie musste ihrer kleinen Tochter klar machen, wie sensibel dieses Wissen im Moment noch sei. Dass es eine große Verantwortung für Ilsa sei, etwas zu erfahren und erst einmal für sich zu behalten. Sie hatte ein Recht, es zu wissen. Aber sie hatte kein Recht, es draußen gleich weiterzugeben. Damit würde Ilsa ihrer neuen Schwester viel Leid zufügen.
Außerdem hatte sie sich vorgenommen, Hendrik zu besuchen. Das erste Gespräch wollte sie allein mit ihm führen. Barbara hatte bei dem Gedanken ein ungutes Gefühl. Nach seinen Reaktionen auf weit geringere Anlässe dürfte das einschlagen wie eine Bombe. Und bei dieser Explosion wollte sie die Kinder aus der Schusslinie halten.
Nach dieser Entscheidung war ihr wohler gewesen. Sie hatte gespürt, wie erschöpft sie von den Ereignissen des Tages wirklich war, und geschlafen wie ein Stein.
Eine halbe Stunde später kam Daniel aus seinem Zimmer. Er hatte die Haare offen, so dass sie um seinen Hals spielten und die Schultern streiften. Barbara musste sich eingestehen, dass ihm das wirklich stand. Und sie tat erstmals etwas, was sie vor zwei Tagen nicht für möglich gehalten hätte. Sie überlegte sich, dass eine flotte Frisur die blonden Haare noch viel besser zur Geltung bringen würde.
»Morgen, Mama. Geht's dir gut?«
Seine Mutter war erstaunt über die Frage.
»Ja – viel besser als gestern. Und dir?«
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