Völlig benommen schüttelte Hannah den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Wie könnte ich auch? Es geht mir jetzt schon viel besser. Du bist ein sehr geschickter Krankenpfleger. Schade, dass ich dich nicht in die Klinik mitnehmen kann. Vielen Dank.«
Dann sah sie ihn forschend an. »Hast du die ganze Zeit am Fenster gestanden? Kannst du nicht schlafen?«
Hralfor schüttelte leicht den Kopf. »Wir benötigen nicht so viel Schlaf wie ihr Menschen. Es genügt mir schon, wenn ich etwas ruhen kann. Aber du hast noch lange nicht genug Schlaf bekommen, du solltest wieder zu Bett gehen.«
»Ich kann aber nicht schlafen, zumindest nicht, ohne Albträume zu haben«, seufzte Hannah. »Und außerdem bin ich furchtbar hungrig. Du hast doch auch schon eine Weile nichts mehr zu essen gehabt, wie wäre es mit einem nächtlichen Imbiss? Ich meine, ich weiß ja nicht, was du so isst, aber vielleicht finden wir irgendwas, das dir schmeckt.« Unsicher sah Hannah ihn an. Hoffentlich hatte sie jetzt nicht wieder etwas Dummes gesagt.
Doch da erschien auf seinem Gesicht erneut dieses übermütige Lächeln, und sie atmete erleichtert auf.
»Ich sterbe fast vor Hunger.« Er grinste. »Und soweit ich weiß, kann ich alles essen, was ihr Menschen zu euch nehmt.«
Befreit atmete Hannah auf. Dann nahm sie Hralfor spontan bei der Hand und zog ihn zu der kleinen Küchenzeile am anderen Ende des Raumes. »Na dann wollen wir mal sehen, was sich alles aus dem Kühlschrank zaubern lässt. Ich denke, es ist dann doch nicht der richtige Zeitpunkt, um groß zu kochen. Wir müssen also fürs Erste mit der kalten Küche vorliebnehmen. Aber zum Frühstück werde ich dir ein echtes irisches Frühstück machen, das verspreche ich dir.«
Im Nu hatte Hannah Brot, Butter, Käse und Wurst auf die kleine Theke gestellt, an der mit Mühe und Not zwei Personen Platz fanden. Dann verschwand ihr Kopf erneut im Kühlschrank und sie kam freudestrahlend mit weiteren Schüsseln hervor. »Kartoffelsalat und Fleischbällchen, ein Schnitzel und ein Rest Thunfischsalat. Ich sage dir, das wird ein Festschmaus.«
Fasziniert beobachtete Hralfor Hannah bei ihren Vorbereitungen. Sein Gesicht hatte sich zu einem ständigen, erheiterten Grinsen verzogen. Sie wirkte auf einmal so fröhlich und hatte offensichtlich jede Angst vor ihm verloren. Erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr ihn ihr völlig verständliches Zurückweichen getroffen hatte.
Entspannt lehnte er sich zurück. Es war ihm egal, welche Speisen sie ihm anbot, solange nur diese freundschaftliche Vertrautheit zwischen ihnen bestehen blieb.
Hannah hatte inzwischen von allen Speisen ein wenig auf einen Teller gehäuft und stellte ihn nun vor Hralfor auf die Theke. »Du musst alles probieren. Und sag mir ganz ehrlich, was dir schmeckt und was nicht! Das macht es mir dann leichter, wenn ich für unsere weiteren Mahlzeiten einkaufen gehe.«
Gehorsam nahm Hralfor von jeder der Speisen einen Bissen, während Hannah ihn gespannt beobachtete. Schließlich lachte sie fröhlich auf. »Also die sauren Gurken sind ganz offensichtlich nicht dein Ding. Fisch und Fleisch gehen in Ordnung und beim Kartoffelsalat hast du mir richtig leidgetan. Aber Käse und Brot sind okay, nicht wahr?«
Etwas verlegen erwiderte er ihren fragenden Blick. »Du bist eine gute Beobachterin.«
Schnell legte Hannah ihm noch einige Scheiben Schinken auf den Teller. »Da, probier das. Ich glaube, der geräucherte Schinken wird dir auch schmecken. Tu dir keinen Zwang an, ich mag ihn eigentlich gar nicht so besonders. Wahrscheinlich habe ich ihn nur aus reiner Gewohnheit gekauft. Den gibt es bei mir zu Hause nämlich immer. Mein Vater und mein ältester Bruder würden dafür sterben.«
Interessiert beobachtete Hralfor den weichen Ausdruck auf Hannahs Gesicht, der bei dem Gedanken an ihre Familie erschien.
»Wie ist deine Familie?«, erkundigte er sich. »Hast du noch mehr Geschwister? Und warum lebst du hier allein?«
Also erzählte Hannah ihm von ihrem Vater, der ein kleines Musikgeschäft hatte, das er nach alter Familientradition von seinem Vater übernommen hatte; von ihrer Mutter, die aus Irland stammte, und die ihren Vater bei einem Musikfestival kennengelernt hatte; von ihren beiden älteren Brüdern und ihrer Schwester, die drei Jahre jünger war als Hannah. Sie beschrieb Hralfor ihre beiden jüngsten Geschwister, ein Zwillingspärchen, das nichts als Unsinn im Kopf hatte, und das sie ganz besonders liebte. Sie erzählte ihm, dass die beiden Kleinen ihr das T-Shirt, das sie gerade trug, eigenhändig bemalt hatten, damit sie sich in den sechs Wochen ihres Praktikums in der Tierklinik nicht zu traurig fühlte.
Hannah redete und redete und Hralfor hörte ihr aufmerksam zu. Immer, wenn sie mit ihren Erzählungen enden wollte, stellte er ihr weitere Fragen über ihr Leben und ihre Familie. Er erfuhr, dass sie Klavier und Geige spielte und bis vor Kurzem nicht gewusst hatte, ob sie lieber Musik oder Tiermedizin studieren sollte. Aus diesem Grund hatte sie sich auch für dieses Praktikum entschieden, das ihr viel Spaß machte.
Während Hralfor Hannah wie gebannt zuhörte, ließ er ihr Gesicht keine Sekunde aus den Augen. Ihre Wangen hatten während ihrer Erzählung eine rosige Farbe angenommen und der Ausdruck ihrer sprechenden Augen änderte sich ständig, je nachdem, wovon sie gerade erzählte.
Sie hatte klare, sturmgraue Augen, die jedes ihrer Gefühle deutlich widerspiegelten. Fasziniert bemerkte er, dass auf ihrem Nasenrücken winzige, goldene Punkte saßen, die ihr ein fröhliches Aussehen verliehen. Ebenso wie die einzelne, gekräuselte Haarsträhne, die sich aus dem langen Zopf gelöst hatte und hartnäckig in ihr Gesicht fiel, obwohl Hannah sie immer wieder ungeduldig zurückstrich.
Ihre Haare waren noch feucht und sein feiner Geruchssinn nahm jeden einzelnen der verschiedenen Düfte war, die Hannah umgaben. Da waren einmal der Geruch der Paste, mit der sie ihre Haare behandelt hatte und der Duft einer anderen Paste, mit der sie ihren Körper gereinigt hatte. Der frische, scharfe Geruch, der vorhin ihrem Mund entströmt war, wurde nun durch die verschiedenen Speisen überdeckt, die sie zu sich genommen hatte. Er hätte genau aufzählen können, um welche Speisen es sich dabei gehandelt hatte. Ganz fein konnte er auch noch den Geruch der Tiere erkennen, die sie im Verlauf des Tages versorgt hatte. Und natürlich den Kräuterduft der Heilpaste auf ihrem Arm. Doch unter all diesen vielen Gerüchen lag Hannahs ganz eigener Duft verborgen. Es war ein sehr angenehmer, ja, anziehender Duft, der seinen Geruchssinn umschmeichelte.
Voller Genuss lauschte er Hannahs Stimme, die – im Gegensatz zu seiner eigenen – weich und ungeheuer melodisch war. Sie erinnerte ihn an die Stimme seiner Pflegemutter, die ähnlich klangvoll war. Leise Sehnsucht nach seiner Heimatwelt stieg in ihm auf. Seine Mutter würde Hannah lieben, da war er sich sicher.
Schnell verdrängte er die wehmütigen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen vor ihm. Dabei fiel ihm auf, dass ihre Stimme nun schläfrig wirkte und die Schatten unter ihren Augen sich vertieft hatten.
Natürlich, wie hatte er nur so gedankenlos sein können? Die Freude an ihrer Gesellschaft hatte ihn völlig vergessen lassen, dass sie ein viel größeres Schlafbedürfnis hatte als er, vor allem nach den schrecklichen Erlebnissen der vergangenen Nacht.
Vorsichtig beugte er sich vor und berührte leicht Hannahs Hand. »Du musst todmüde sein. Es tut mir leid, dass ich dich so lange aufgehalten habe. Du solltest versuchen, noch etwas zu schlafen.«
Benommen starrte Hannah auf seine Finger, die auf ihrem Handrücken ruhten. Da war sie wieder, diese unglaubliche Wärme, die ihnen entströmte. Fragend sah sie Hralfor ins Gesicht. »Was habt ihr eigentlich für eine Körpertemperatur?«
Es dauerte eine Weile, bis Hralfor ihre Frage richtig verstanden hatte, dann lachte er leise auf. Sie erinnerte ihn an die Anfänge seiner Bekanntschaft mit seiner Pflegemutter. Sie hatte ihn damals dasselbe gefragt, als sie nicht sicher war, ob er krank war oder nicht. »Ich glaube, mir wurde einmal gesagt, dass meine Körpertemperatur ungefähr drei Grad über der menschlichen liegt, was auch immer das bedeutet.«
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