Sie waren nun vor dem Haus ihrer Verwandten angekommen und Hannah sah prüfend zu dem hochgewachsenen Fremden auf, der ihren Blick ruhig erwiderte. In seinen glühenden Augen glaubte sie, Verständnis für ihre Lage zu erkennen. Sofort fühlte sie sich ein wenig besser.
»Wir sind jetzt da«, murmelte sie.
Ungeschickt holte sie den Schlüssel aus der Jackentasche und fummelte eine Weile fluchend mit unsicheren Händen am Schloss herum. Als der Schlüssel endlich steckte und mit einem leisen Klicken das Schloss öffnete, seufzte sie erleichtert auf.
Hralfor hatte mittlerweile das Fahrrad von der Schulter gehoben und an die Hauswand gelehnt. Nach kurzem Zögern nahm er ihren Rucksack vom Gepäckträger, dann folgte er Hannah in den dunklen Hausflur. Ohne das Licht anzuschalten, lief sie zu der Tür, die in die kleine Einliegerwohnung führte und öffnete sie. Hier machte sie Licht und hielt Hralfor die Tür einladend auf.
Die Wohnung bestand aus einem größeren Wohnraum mit Küchenzeile, einem kleinen Bad und einem winzigen Schlafzimmer. Kurz spielte Hannah mit dem Gedanken, den Fremden in den oberen Räumen ihrer verreisten Cousine einzuquartieren, aber irgendwie erschien ihr das wie ein Vertrauensbruch ihren Verwandten gegenüber. Hannah seufzte auf. Sie musste eben einfach damit klarkommen, auf engstem Raum mit diesem Fremden zu wohnen. »Du kannst hier im Wohnraum schlafen. Allerdings fürchte ich, dass die Couch für dich zu kurz ist.«
Es handelte sich um einen Zweisitzer von höchstens einem Meter fünfzig Länge. Sie konnte ein nervöses Grinsen nicht unterdrücken, als sie sich vorstellte, wie Hralfor seine lange Gestalt darauf unterzubringen versuchte. »Ich habe aber irgendwo noch eine Isomatte herumliegen sehen. Zusammen mit ein paar Decken könnte es gehen.«
Hralfor hob beschwichtigend die Hand. »Mach dir keine Mühe, ich kann sehr gut auf dem Boden ruhen.«
»Quatsch!«, entfuhr es Hannah. »Ich hole dir die Sachen. Mach es dir in der Zwischenzeit gemütlich. Ach ja, hinter der Tür dort ist das Bad.«
Unsicher sah sie den Fremden an. Vielleicht konnte er ja überhaupt nichts mit einem Bad anfangen?
Hralfor deutete ihren Blick ganz offensichtlich richtig. Auf seinem Gesicht erschien ein amüsiertes Lächeln. »Keine Angst. Ich bin mit der Bedeutung eines Bades durchaus vertraut. Die Bewohner meiner Heimatwelt sind ein sehr reinliches Volk.«
Bei seinen Worten lief Hannah knallrot an. Verlegen stammelnd zog sie sich zurück, um die Isomatte und die Decken zu holen. Sie war froh, einen Grund zu haben, um aus seiner übermächtigen Präsenz zu fliehen.
Verdammt, Hannah, da hast du ja ein schönes Ei gelegt! Ein Glück nur, dass er Humor zu besitzen scheint. Er muss ja denken, ich glaube, er kommt aus der Steinzeit oder schlimmer noch, ich halte ihn für ein Tier. Bei diesem Gedanken stöhnte sie auf. Ich brauche dringend ein Lehrbuch darüber, wie man mit wild aussehenden Außerirdischen umgeht, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
Viel zu schnell hatte sie die Sachen im Keller gefunden und ging damit recht zögerlich wieder in ihre Wohnung. Der Fremde wandte ihr den Rücken zu und blickte durch einen Spalt des Vorhangs hinaus in den Garten. Er trug nach wie vor seinen Umhang und sah so aus, als wollte er das Haus jeden Moment wieder verlassen.
Eilig machte sie sich daran, die Isomatte in dem geräumigsten Winkel des Zimmers auszurollen. Als sie die Decken so darüber drapierte, dass seine lange Gestalt einigermaßen weich liegen konnte, wurde sie von Hralfors heiserer Stimme aufgeschreckt.
»Ich weiß, dass das alles schwierig für dich ist und bin dir sehr dankbar für deine Hilfe. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben, dass ich dir kein Leid zufügen werde.«
Langsam drehte er sich zu ihr um. Hannah stockte kurz der Atem, als das Licht der Zimmerlampe sich in seinen Augen fing und sie hell aufglühen ließ. Er betrachtete sie prüfend. »Wenn dich meine Anwesenheit zu sehr ängstigt, werde ich sofort gehen. Du bist todmüde und benötigst Schlaf. Da sollten dich keinerlei Ängste quälen.«
»Ich bin wirklich müde, und eigentlich habe ich keine richtige Angst vor dir. Ich glaube dir, dass du mir nichts tun wirst.« Hannah schluckte. »Aber ich habe Angst davor, dass ich dich auf irgendeine Weise beleidigen oder verletzen könnte. Deine Art ist mir einfach fremd, und das macht mich so unsicher. Wenn du mir erklärst, was das alles hier zu bedeuten hat … Ich bin sicher, dann wird es für mich einfacher zu verstehen.« Hannahs Stimme war zum Schluss nur noch ein Flüstern, doch der Fremde verstand sie genau.
Ein verständnisvoller, sehr freundlicher Blick traf sie. »Du wirst mich nicht beleidigen. Ich weiß, wie meine Art auf euch Menschen wirkt. Du warst sehr tapfer und nichts, was du gesagt hast, hat mich in irgendeiner Weise verletzt. Aber im Moment bist du zu erschöpft, um dir meine Erklärungen anzuhören. Du kannst ja kaum noch stehen und brauchst dringend etwas Schlaf. Also bitte ich dich, mir weiter zu vertrauen. Wenn du ausgeruht bist, werde ich versuchen, dir deine Fragen zu beantworten. Bis dahin schiebe ruhig ein schweres Möbelstück vor deine Tür und schließe sie ab. Das wird mich nicht verärgern, denn es ist eine ganz natürliche Reaktion auf diese Situation.«
Bei seinen Worten überkam Hannah ein Gefühl der Dankbarkeit. Er verstand sie wirklich und er war unglaublich mitfühlend.
Natürlich hätte sie ihn am liebsten sofort über sich ausgefragt, doch er hatte recht. Sie war mittlerweile so erschöpft, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten, geschweige denn einen zusammenhängenden Gedanken fassen konnte. Und für das, was er ihr zu erzählen hatte, benötigte sie sicher einen klaren Kopf.
Tatsächlich war sie so müde, dass sie nicht einmal wusste, ob das alles hier nicht einfach nur ein total verrückter Traum war. Nur eines wusste sie plötzlich ganz genau, nämlich dass sie wirklich keine Angst vor ihm haben musste. Im Gegenteil, mit ihm im Haus war sie sicherer, als sie es bisher alleine gewesen war. Sie konnte sich keinen Einbrecher vorstellen, der ihm gewachsen war.
Bei diesem Gedanken trat ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. »Ich werde nichts dergleichen tun. Ich habe keine Lust, jedes Mal, wenn ich auf die Toilette muss, eine Kommode zur Seite zu rücken. Und überhaupt«, vielsagend sah sie ihn an, »glaube ich nicht, dass irgendein Möbelstück hier schwer genug ist, um dich daran zu hindern, in ein Zimmer zu kommen, wenn du das möchtest, stimmt’s?«
Prüfend sah er sich das Mobiliar an. Dann hob er die Schultern und grinste Hannah an. »Nein, ich glaube auch, dass es in diesem Fall sinnlos wäre.«
Hannah starrte Hralfor verblüfft an. Sein Gesichtsausdruck war nun geradezu übermütig und das verschwörerische Grinsen gab ihm etwas unwiderstehlich Jungenhaftes. Ihr Magen begann leicht zu flattern, aber diesmal nicht vor Angst. In diesem Moment hatte sie nur einen Wunsch, sie wollte diesen faszinierenden Fremden besser kennenlernen. Und vielleicht konnten sie ja sogar Freunde werden.
Mit einem Mal kam ihr die Vorstellung, dass Hralfor einige Zeit bei ihr verbringen würde, überhaupt nicht mehr beängstigend vor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf. Außerhalb der Tierklinik hatte sie sich in der fremden Stadt doch manchmal etwas einsam gefühlt. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sie war schon sehr gespannt auf den nächsten Tag, an dem sie zum Glück freihatte. Er würde bestimmt interessant werden.
»Also, dann mach ich mich mal fertig und gehe schlafen«, brachte sie lächelnd hervor. »Fühl dich wie zu Hause – und schlaf gut.« Sie wollte sich schon umdrehen, als ihr noch etwas einfiel. »Ach, übrigens, ich heiße Hannah.«
Schnell lief Hannah in das kleine Bad, das sie nach kurzem Zögern dann doch verriegelte.
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