Hannah hatte sich so in Rage geredet, dass sie erst einmal tief Luft holen musste. Der Fremde sah sie verwirrt an. Bestimmt hatte er so gut wie kein Wort von dem verstanden, was da gerade aus ihr herausgesprudelt war.
Seine glühenden Augen verdunkelten sich. »Machst du dir wegen mir etwa Sorgen? Das ist sehr freundlich, aber keine Angst, ich kann auf mich aufpassen. Wenn ich nicht gefunden werden will, findet man mich auch nicht.«
»Und wie lange willst du dich verstecken?«, schnaubte sie unwillig. »Dein ganzes restliches Leben lang?«
Wieder erschien das feine Lächeln auf seinem fremdartigen Gesicht. »Ich werde einen Weg finden, zurückzukehren, glaube mir. Aber zunächst werde ich es noch einmal auf die übliche Art versuchen.«
Wieder trat der Fremde einige Schritte zurück, konzentrierte sich und hielt sich den seltsamen Stein an die Brust.
Wie schon davor erschien der Luftwirbel, der endlos lange um ihn herumzutanzen schien, ohne dass eine Änderung eintrat. Hannah verfolgte besorgt, wie sich sein Gesicht erneut voller Schmerz verzog und er schließlich taumelnd auf die Knie fiel. Seine raue Stimme klang abgehackt. »Nein, dieser Weg scheint fürs Erste versperrt zu sein.« Langsam kam er wieder auf die Beine.
Hannah zögerte kurz, dann holte sie tief Luft und sah zu ihm auf. Entschlossen unterdrückte sie ein Schaudern, als sie die unheimlichen Augen mit ihrem merkwürdig reflektierenden Leuchten auf sich fühlte. »Dann kommst du jetzt erst einmal mit mir. Dort bist du in Sicherheit und kannst in aller Ruhe über deine nächsten Schritte nachdenken.«
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie dieses Angebot machte. Es war schon unvorsichtig genug, einen fremden Menschen mit nach Hause zu nehmen. Dieses Angebot jedoch einem Wesen gegenüber zu machen, das nicht nur fremd, sondern völlig fremdartig war, war eigentlich der reine Wahnsinn. Sie hatte gesehen, wie effektiv dieser Fremde, ohne mit der Wimper zu zucken, drei der furchterregendsten Kreaturen, die sie sich nur vorstellen konnte, getötet hatte – mal ganz abgesehen davon, dass er selbst auch so eine zu sein schien. Und jetzt lieferte sie sich ihm einfach so aus.
Doch als sie zu ihm aufsah und seinem ruhigen, forschenden Blick begegnete, wusste Hannah einfach, dass sie vor ihm nichts zu befürchten hatte. Vorsichtig lächelte sie ihn an.
Der Fremde blickte ihr ernst in die Augen, legte leicht eine Hand an die Brust und neigte in einer fließenden Bewegung den Kopf. »Ich danke dir für dein großzügiges Angebot. Ich nehme es gern an.«
Wieder fanden seine Augen ihr Gesicht und ein weicher Ton schwang in der heiseren Stimme mit. »Mein Name ist Hralfor. Ich stamme aus der Welt Vargor.«
2
Verstohlen betrachtete Hannah den Fremden, der wie selbstverständlich an ihrer Seite durch die dunklen Straßen einer ihm unbekannten Welt lief.
Aber eigentlich konnte man das, was er tat, nicht richtig als Laufen bezeichnen. Es war eher ein Gleiten, völlig geräuschlos und von einer verstörenden, absolut nichtmenschlichen Geschmeidigkeit – wie eine Raubkatze, die sich lautlos an ihre Beute heranpirschte.
Bei diesem Gedanken fröstelte sie. Auch wenn man seine ungewöhnlichen Gesichtszüge im Dunkeln nicht erkennen konnte und seine enorme Größe außer Acht ließ, konnte man ihn aufgrund seiner Bewegungen selbst aus der Ferne einfach nicht für einen Menschen halten. Das gelegentliche Aufglühen seiner Augen im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung sowie der weite, dunkle Umhang, der seinen sehnigen Körper fast vollständig verhüllte, verstärkte den unheimlichen und völlig andersartigen Eindruck noch um ein Vielfaches.
Hannah konnte nur inständig hoffen, dass niemand ihnen begegnete oder auf sie aufmerksam wurde. Entsetzt wurde ihr klar, dass das gequälte Quietschen ihres Fahrrads genau die Art von Aufmerksamkeit erregte, die sie so dringend vermeiden wollte. Schnell hob sie das Rad am Hinterreifen an, und das Geräusch verstummte.
Wenn sie nur nicht so entsetzlich müde und erschöpft wäre. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Und das unergründliche Schweigen, in das sich der Fremde hüllte, kostete sie noch die letzten Nerven.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, wandte der Fremde, der sich Hralfor nannte, den Kopf und sah grübelnd auf sie hinab. Dann griff er wortlos nach dem Fahrrad und hob es sich auf die Schulter. Hannah schnappte nach Luft. Das alte Ding war tonnenschwer und er sah aus, als würde er lediglich einen Tennisschläger schultern! Als Hralfor ihren fassungslosen Blick bemerkte, schenkte er ihr ein fast entschuldigendes, kleines Lächeln, das Hannah die Absurdität dieser ganzen Situation erst so richtig zu Bewusstsein brachte. Und plötzlich musste sie einfach loskichern.
Das alles ist völlig verrückt! Das würde mir nie jemand glauben. Da laufe ich mit irgendeinem Superwesen von einem anderen Stern durch die Straßen und mache mir Sorgen wegen eines quietschenden Fahrrads.
Hannah gab sich die größte Mühe, nicht laut loszuprusten. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall stand, doch auch das konnte ihre Erheiterung nicht zügeln.
Hralfor beobachtete Hannah beunruhigt, zuckte aber schließlich mit den Achseln. Es war besser, sie lachte über diese Situation, als dass sie in Panik geriet. Sie hatte bisher sowieso schon erstaunliche Stärke darin bewiesen, wie sie mit den für sie unerklärlichen und lebensbedrohenden Erlebnissen zurechtgekommen war. Sie hatte sogar einen der Verbannten abgewehrt und sich damit vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.
Grimmig presste er die Lippen aufeinander, als er daran zurückdachte, wie knapp sie vorhin einer Entführung entgangen war. Ohne ihre Geistesgegenwart wäre er zu spät gekommen. Wenn er sich vorstellte, was sie auf dem Kontinent der Verbannten erwartet hätte, kam ihm seine eigene vertrackte Lage in dieser fremden Welt regelrecht harmlos vor. Irgendwie würde er schon einen Weg finden, der ihn hier wieder herausbrachte. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass er gegen seinen Willen in einer fremden Welt festgehalten wurde. Allerdings war er dem Mädchen doch sehr dankbar dafür, dass sie ihm Unterschlupf gewährte, bis er sich ein wenig orientiert hatte. Er warf Hannah noch einen kurzen, prüfenden Blick zu. Es hatte sie eine Menge Mut gekostet, ihm, der auf sie wie eine furchterregende Bestie wirken musste, dieses Angebot zu machen. Aber dass sie über Mut verfügte, hatte er schon gewusst, als sie nicht die Flucht ergriffen hatte, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu geboten hatte.
Sie waren mittlerweile im Wohngebiet angekommen und die Lichter der Straßenlampen beleuchteten die beiden Passanten erbarmungslos.
Hannah beschleunigte ihre Schritte, bis sie beinahe rannte. Der Fremde blieb weiterhin völlig lautlos an ihrer Seite. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war jetzt am größten. Es war kurz vor Mitternacht und in den Fenstern einiger Häuser brannte Licht. Wenn nur einer der Bewohner zufällig hinausblickte, steckten sie in Schwierigkeiten. Hannah sprach ein Stoßgebet nach dem anderen. Sie erwartete, jeden Augenblick einen entsetzten Aufschrei zu hören. In der Ferne glaubte sie sogar, eine Polizeisirene zu vernehmen.
Alle Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Rippen und sie lief noch schneller. Nur noch wenige Häuser, dann kamen sie zu dem kleinen Weg, der zum Haus ihrer Cousine führte. Dort gab es nur eine einzige, recht trübe Straßenlampe und die Gärten der Nachbarn waren von hohen, dichten Hecken eingefasst.
Erleichtert seufzte Hannah auf, als sie schließlich in diesen Weg einbogen. Sie verlangsamte ihre Schritte und atmete erst einmal tief durch. Ganz allmählich beruhigte sich auch ihr rasender Puls.
Das ist völlig verrückt. Ich habe gerade fast genauso viel Angst gehabt wie während des Überfalls, bei dem ich doch in Lebensgefahr war. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Es wird höchste Zeit, dass ich endlich ins Bett komme. Ich bin schon völlig überdreht. Unbehaglich zog sie die Schultern hoch, als sie daran dachte, dass sie in dieser Nacht nicht allein sein würde.
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