An anderen Tagen klaubte er Fallobst in Körbe, schied faule von guten Äpfeln und Birnen und brachte die schönsten Frau B. ins Haus. Als er acht Jahre alt war führte er geschickt die Sichel durchs Gras ohne sich zu verletzen und wurde beim Jäten, beim Gießen und Ernten ein verlässlicher Helfer. Auch mit der Säge wurde er bald vertraut, sammelte Heizholz für den Winter und trug es, gebündelt über den Rücken geschwungen vom nahe gelegenen Wald auf den häuslichen Holzstoß. Die Belohnung war Schmalzbrot, falls genug davon da war, was aber nicht immer erwartet werden durfte in den kargen Zwischenkriegszeiten des vergangenen Jahrhunderts, einer Zeit der Arbeitslosen.
Georg erledigte seine Pflichten flink und genau. Die Kaninchen gediehen unter seinen Händen, sie waren seine Freunde geworden und tappten lustig ans Gitter wenn er, den Futtersack über der Schulter bei ihnen ankam. Er goss Wasser in ihre Schälchen und reinigte zeitgerecht ihre Ställe. Er sichelte und rechte das Gras im Garten. Frau B. kochte aus dem von Georg geernteten Obst Marmelade und hütete im Herbst streng die Nüsse vor ihm. Vorrat für den Winter, rief sie ihm nach, bevor er hinausging, um sie in Körbe zu sammeln und in die Vorratskammer zu tragen. Was für ein hübsches, bewegliches Bürschchen, sagten die Leute. Spindeldürr, gelenkig und voller Kraft in den Armen und Beinen; turnt, wenn einmal keiner ihn für eine Arbeit braucht, auf den Bäumen herum, ganz oben.
Nur sehr wenige seiner Schulkameraden kletterten ihm dorthin nach, was Georg sichtlich Freude bereitete. Den Mitgekommenen aber führte er seine Künste vor, und nicht selten endete so ein Spiel mit einem Wettlauf von Ast zu Ast und von Baum zu Baum, meist in der Allee, wo sie einander nahe standen. Georg blieb immer Sieger dabei.
Die erwachsenen Zuschauer neideten ihm das nicht. Armer Kerl, sagten sie, das wenigstens hat er den anderen voraus. Ähnliche Worte fanden auch zwei alte Leute, die dem Haus des Herrn B. gegenüber wohnten und Georg durch ihre Fensterscheiben beobachteten. Das waren die Eltern des Herrn B., aber Herr B. hörte nicht auf ihr Gejammer. Wenn du ihm nicht genug zu essen gibst, dann lass ihn zu uns herüber, meinten sie beide. Da hätte er es besser und hätte auch Zeit etwas Ordentliches zu lernen. Gib ihn uns, bat die Mutter des Herrn B. ganz ernsthaft, und der alte Herr stimmte ihr zu. Wir adoptieren das Kind. Wird uns ein besserer Sohn sein als du.
Das hörte Herr B. nicht gern. Als kundiger Mann beim Hausbau, Polier und rechte Hand seines Baumeisters, hatte er wohl das Seine geleistet und war beleidigt, eigentlich bitterböse. Es waren schlechte Zeiten, und arbeitslos zu sein kein Honiglecken. Die Alten bewohnten ein sauberes Häuschen, das ihm, nur ihm allein von Rechts wegen zustand. Sollte der kleine Nichtsnutz es ihm denn wegnehmen?
Herr B. redete kein Wort mehr mit seinen Alten und erzählte alles am selben Abend noch seiner Frau als sie von einem Gasthausbesuch nach Hause kamen und in der Speisekammer nach ihrem Nachtmahl suchten. Dabei stellte es sich heraus, dass die gehütete Rein mit den Nudelresten völlig leer und von dem Aufbewahrten kein Bröselchen mehr vorhanden war, in der Nachtmahlrein sich also keine einzige Grießnudel mehr befand; und dass – weder der ältere Sohn noch sonst ein Mensch war an jenem Tag im Haus – einzig Georg als Täter in Frage kam. Infam, weil widerrechtlich hatte er alles was an Grießnudeln von dem Mittagsmahl übrig geblieben war, in sich hineingestopft, so dass es den Anschein hatte, Herr B. hätte im eigenen Haus nicht nur seinen künftigen Erbschleicher zu ernähren. Georg sei jetzt schon, das sei ja nun zur Genüge bewiesen ein ausgefeimter Dieb, der kaltblütig seine Wohltäter um ihr bescheidenes Nachtmahl betrog. Brauchte das noch einen anderen Beweis? Auch hatte die Bäckersfrau Georg unlängst erst vor dem Semmelkorb beobachtet. Allzu lang sei er davor gestanden, und wer weiß, ob er dabei nicht – diebisch wie im gegenwärtigen Fall – eine verschlungen hat?
Sie suchten nach Georg und fanden ihn schluchzend im Keller bei den Kaninchen, wo er meistens zu finden war und sie hätten ihn windelweich geschlagen, wäre Georg nicht flink wie ein Pfeil unter der wütend erhobenen Hand des Herrn B. hinausgeschlüpft ins Freie und seiner wohlverdienten Strafe entronnen. Die beiden zeterten in schrillen Tönen, was weithin zu hören war, aber der Bub war längst über das froststarre Gras und durchs Gartentor in den Nebel getaucht, der sich wie ein schützender Vorhang über die Schreckensszene gebreitet hatte. Nach Hasenart lief er, Haken schlagend, in die kalte Novembernacht hinaus. Im Wald dachte Georg, wäre er sicher. Aber er hatte keinen Mantel dabei, keine Mütze, rein gar nichts.
Die Tür, vor der Georg nach blitzschneller Kehrtwendung angerannt kam, stand bereits offen. Die Mutter des Herrn B. nahm ihn in ihre Arme, bevor sie wieder drinnen im Haus den Riegel vorschob. Der Kleine war damals kaum mehr als acht Jahre alt. Als seine Tränen endlich versiegten, alles erzählt und das Schmalzbrot verzehrt war, das sie ihm vorgesetzt, sah er sich in dem schönen Raum um. Da hingen Geweihe an den Wänden, dort glänzten Gläser in einem Regal, und über den Tisch war ein sauberes Tuch gebreitet. So etwas hatte das Kind nie gesehen. Der alte Herr fasste ihn an der Hand und führte ihn vor eine verschlossene Kredenz. Sagst halt Großvater zu mir, meinte er begütigend und öffnete die gläserne, mit Blumenmustern verzierte Tür. Da gab es drei Reihen voll Bücher, große und kleine, mit dicken und dünnen, hellen und dunklen, grünen und braunledernen Rücken. Manche hatten goldene Buchstaben darauf und Georg durfte mit der Hand berühren was der alte Herr für ihn aus der Kredenz hob. Zwar kann man Bücher nicht essen, meinte der Vater des Herrn B. mit einem Lächeln, doch eigentlich schmecken sie besser als Grießnudeln, glaube mir. Manchmal sogar noch besser als Brot, und einmal wirst du es wissen. Natürlich nur wenn du lernst, sie richtig zu lesen. Das und Ähnliches murmelte er in seinen schlohweißen Bart hinein. Dann, so meinte er zu Georg gewendet, gehören sie dir.
Besser als Brot? Georg konnte das Wunder nicht fassen. Ein anderes Brot, ergänzte freundlich der alte Mann und Georg sah zu ihm auf und wusste nicht, wie ihm geschah. Aber er konnte ja lesen! Warum wusste das niemand, warum hörte ihm nie einer zu? Selbst die Lehrerin nicht, vor der er sich fürchtete, weil er jeden Tag und immer noch an dieses kreuzweise Pflaster über dem Mund denken musste. Durch Tränenschleier betrachtete er den alten Herrn, der sein Großvater nicht war, wie Herr B. ihm eingeschärft hatte. Und trotzdem durfte er Großvater zu ihm sagen? Wie war denn das möglich? Herrn B. durfte er nie anders als mit „Herr B.“ ansprechen, zu Frau B. nichts anderes sagen als eben „Frau B“. Und natürlich galt jederzeit nur die Anrede „Sie“. Georg war an anderes nicht gewöhnt, doch wusste er sehr genau, dass der Bertl, der Sohn der Familie, „Vater“ und „Mutter“ sagen durfte und natürlich auch „du“. Den Bertl lobten sie wegen seiner Tüchtigkeit, während sie Georg zu den Hasen schickten, wenn sie dem eigenen Kind bei den Aufgaben halfen. Wie sehr hätte Georg sich gewünscht, dass ihm wenigstens einmal einer beim Lesen zugehört oder beim Schreiben zugeschaut hätte. Wenigstens einmal! Aber Herr B. wollte das nicht. Du musst lernen, alles selber zu machen, sagte er gern, im Leben hilft dir auch keiner weiter. Und ich bin nicht dein Vater! Noch schmerzvoller fand Georg das Verbot, zum Bertl „Bruder“ zu sagen. Als ihn die anderen Buben verspottet hatten, ihm wieder einmal einer ein Bein stellen wollte, rief Georg in seiner Empörung: Ich sag’s meinem großen Bruder! Der Bertl aber hatte darauf nur gelacht und Georg nicht einmal angeschaut. Der ist nicht mein Bruder, hatte Bertl gemeint. Der? Der ist doch nicht mein Bruder!
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