Was außerdem auffiel und ihn mächtig beeindruckte? Dass die Menschen im Film sich einer anderen Sprache bedienten. Bald unterschied er genau zwischen den Redegewohnheiten der Leute im Dorf und verglich sie mit denen der Schauspieler. Der Lautklang jener Frauen und Männer gefiel ihm. Ähnlich wie die seiner Lehrerin, dachte Georg, nur noch viel schöner. In der Schule hörte er dennoch bald aufmerksam auf die Stimme der strengen Frau, verlor langsam die Angst vor ihren Fragen und wusste nach und nach manchmal sogar eine passende Antwort darauf.
Was er nicht liebte, waren hässliche Szenen, die es ab und zu vor der Filmvorführung zu sehen gab. Unüberhörbar, besonders gegen Ende der Dreißigerjahre die Zeichen der Zeit. Die raueren Reden der Männer, die Menschenmengen und Furchterregendes jeglicher Art, das Georg bekannt vorkam und das er gern mied.
Es machte ihn glücklich, wenn in der warmen Jahreszeit die Türen des Kinosaals offen standen und sich ihm die Gelegenheit bot, erst gegen Ende einer lärmenden Vorschau, wenn die Kinogäste, vom Flugzeuggedröhn und dem Geschrei eines Einzelnen oder einer Menge überwältigt, unbemerkt in das schützende Dunkel zu tauchen. Dann konnte er nach Ablauf des Lärms wieder völlig gefahrlos auf allen Vieren sich den Wundern der Schönheit und manchmal doch auch der Liebe nähern.
Die geheime Herrlichkeit seines Bubenlebens war leider zu Ende, als Georg zu viele unvorsichtige Nachahmer fand. Den Kindern des Dorfes blieb nichts verborgen. Sie kamen in Scharen und wollten auch dieser Freuden teilhaftig werden. So wurde die Sache bald offenbar und äußerst schwierig für Georg. Als Frau B. davon erfuhr war sein Traum zu Ende, doch da glaubte er ja bereits zu wissen wie die Dinge des Lebens liefen, was davon nachahmenswert war und schön – und was verabscheuenswürdig und unangenehm. Das wollte er meiden.
Was Georg sonst noch aus jener Zeit im Gedächtnis blieb? Neben der Freude an Musik war es die nicht zu leugnende Tatsache, dass es völlig verschiedene Menschen gab, einer mit anderen keineswegs vergleichbar. Das zeigte nicht nur die Art und Weise wie sie sich gaben, wie sie miteinander sprachen, sich kleideten und bewegten. Hören konnte man das bereits an dem Tonfall der Stimmen, in den Gesichtern konnte man unterschiedliche Regungen sehen, so wie sie Georg ja auch manchmal packten und überwältigten. Wie schrecklich und Furcht erregend die einen, wie reizend und nett manch andere Menschen! Und wie sie sich zueinander verhielten, besonders, wenn einer verliebt war! So etwas hätte auch er gern erlebt, dass jemand so nett zu ihm gesprochen hätte. Mit sanfter Stimme, beruhigend, einfach lieb. Hier im Dorf gab es das nicht. Für vieles nicht einmal Wörter.
Doch käme Georg, einmal erwachsen, hinaus in die Welt der Großen – er stellte sich das ganz wunderbar vor – würde er manches, was er hier in den Filmen bewunderte, wiederfinden: die guten, die unguten und die schrecklichen Menschen. Die Freundlichsten, Liebenswürdigsten von allen würde er sich aussuchen. Er selber aber wollte wie sie, mit Schuhen, Hut und sauberem Anzug, gern einer von ihnen sein.
Vom Anfang an war es Neugier die ihn in jener Gegend umgab. Damals, als das Kuckuckskind Georg vor dem Schultor aufgetaucht war, wusste keiner woher, warum und wer ihn dahergebracht. Umso mehr wurde geredet unter vorgehaltener Hand. Einfache Leute waren die B.s, Zieheltern wider Willen, denen angeblich nach schwierigem Hin und Her und trotz vehement vorgebrachter Proteste ein Kostkind aufgehalst worden war, an dessen Entstehung sie jede Beteiligung leugneten. Nach anfänglichem Unmut und einiger Ratlosigkeit sollen die B.s Resignation gezeigt haben, am Ende dann Gleichgültigkeit. Vor allem bezüglich diverser Erziehungsmethoden im Schulhaus.
Es wurde geredet. Wieso denn die Leute so plötzlich ein Kind bekommen hätten, die Bedauernswerten, ein jeder hätte sich doch dagegen gewehrt. Einige wussten es anders und hatten Mitleid mit dem Kleinen. Schließlich kam Frau B. ins Gerede. Hatte die denn nicht ohnehin einst ein Kind mit in die Ehe gebracht? Jetzt waren es also zwei, von denen Herr B. nicht der Vater war? Die Kinder erzählten daheim was sie mit dem Kostkind der B.s in der Klasse erlebten. Was im Schulzimmer vor sich ging war also bald allen klar. Doch niemand im Dorf schien zu wissen wie auf andere Weise der manchmal überbordenden Redelust des kleinen Bankerts beizukommen gewesen wäre. Also stimmten auch sie in der Sache Mundverklebung der Lehrerin zu. Herr B. und Frau B. erklärten, bei ihnen sei Georg vom Anfang an selten zum Sprechen bereit gewesen. Auch jetzt sei er immer noch ziemlich stur und verbockt. Da sei es bisher noch nicht nötig gewesen ihm den Mund zu verkleben.
Ja, zwei vom Schicksal Überrumpelte waren die B.s, die sowohl das Kostkind als auch einander voll Missmut betrachteten, unfroh des kleinen Hausgenossen, den sie nicht nur zu nähren sondern auch noch zu kleiden hatten. Da sei es praktisch, ihm die zu klein gewordenen alten Sachen des größeren Buben zu geben, des Sohns der Frau B. Die Schuhe, die Wäsche, die Jacke auch.
Die einzige Erleichterung ihres Loses war sein Schweigen. Nun auch noch das Gegenteil fürchten zu müssen, das fehlte gerade noch! Außerdem sei ihnen wichtig, dass alles was dieses Kind zu lernen habe ohne Ärgernis und zur Gänze im Schulhaus erledigt werden müsse. Das sei wohl das Selbstverständlichste der Welt, auch wegen ihres anderen, nur um wenige Jahre älteren Buben, der als leiblicher Spross der Frau B. natürlich ein Anrecht auf Beachtung der Hausaufgaben, auf Frage und Antwort hätte; ein zwangshalber in die Familie Gekommener verständlicher Weise weit weniger. Im gegebenen Fall sei es völlig richtig dem ungezogenen Vielredner – so Georg denn tatsächlich einer sei – kreuzweise den Mund zu verschließen. So verwahrten sich die B.s vor neugierigen Fragern. Sie hatten Kost zu geben, einen Schlafplatz, sonst nichts. Auch er, der Herr B., sei nämlich keineswegs der Vater.
Georg war von Natur aus ein sanftes, ein stilles Kind. Dennoch, wie in der Schule so war auch im Haus der Kostleute sein Schweigen nicht von sehr langer Dauer. Hatte er die Freude am Reden doch vermutlich überhaupt erst in diesem Dorf entdeckt und lustige Einfälle der Kinder mit Staunen auch als Möglichkeit für sich selber verstanden. Deshalb kam Herrn B. der nahe liegende Gedanke, für sich und die Seinen die häusliche Ruhe zugleich mit einem nützlichem Vorteil zu sichern; das fremde Kind, so gut es ging, durch Aufgaben außerhalb der familiären Begebenheiten zu beschäftigen. Das sei gut für alle, aber besonders für Georg, denn nur durch Arbeit würde er lernen sich später im Leben allein zu behaupten. Das hieß allemal, sein Brot sich mit der Zeit selbst zu verdienen. Außerdem: War einer weniger brauchbar in der Schule, musste er zeitgerecht lernen, anderen zu Diensten zu sein und möglichst früh sich daran zu gewöhnen.
In diesem Sinne versorgte Georg bald schon die sonntäglichen Fleischlieferanten des Hauses B., die Kaninchen. Er lernte, im Garten und draußen zwischen Feldern so wie am Wegrand nach deren Lieblingsspeisen zu suchen und ihre Ställe zu säubern. Nach kurzer Zeit bereits hoppelten sie ihm in ihren engen Behältnissen entgegen und wurden seine Gefährten. Der Kleine war traurig, wenn wieder einer von ihnen in der Bratpfanne brutzeln musste und sonntags dann ausgerechnet auf seinem Teller der Kopf des lieben Tierchens lag. Der ist dir sicher am liebsten meinte Frau B. Hast ihn ja immer gestreichelt. Georg saß dann davor und nahm nur wenig davon, weil die hübschen Ohren ja nicht mehr dran waren, auch nicht die Augen; und außerdem, weil zu viele Gedanken in seinem eigenen Kopf sich drängten, mit Not zurückgehalten, um nur ja nicht durch den geschwätzigen Mund nach draußen zu rutschen, denn das durften sie nicht. Georg sagte also nichts und war froh, vom Tisch weg und gleich wieder hinaus zu kommen, um allein zu sein.
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