Dieser unbegreifliche Vorgang wiederholte sich mit einer Regelmäßigkeit, deren Sinn nicht zu erkennen war und beschäftigte ihn umso mehr, weil eine Frage an die Erwachsenen gewiss Ärger zur Folge gehabt hätte, vielleicht sogar Schlimmeres. Er behielt das Geheimnis daher bei sich, lief zu gewissen Tageszeiten hinaus und horchte auf das herrliche An- und Abschwellen der Musik, die sich in seinen Ohren festsetzen wollte. Er lauschte den geheimnisvollen Stimmen dazwischen und allen anderen Geräuschen, die er sich nicht erklären konnte. Wieder und wieder zog es ihn zu dem ihm nun wohlbekannten Versteck.
Eines Abends erkannte Georg in der Schar der heimwärts Wandernden seine Kostgeber, Herrn und Frau B. Erschrocken huschte er durch das nächste Gestrüpp und lief so schnell seine nackten Füße ihn trugen voraus, um vor ihnen im Haus zu sein und etwaigen Unmut über seine unerlaubte Abwesenheit gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Die beiden B.s kamen gemächlich und gut gelaunt daher, sie redeten über etwas, das sie gesehen hatten. Ein Kino ist das, erklärte Frau B., als Georg gespannt und neugierig zu ihr aufsah. Aber du bist noch zu klein für solche Sachen. Kinder haben dort nichts zu suchen. Als sie das ängstliche Bubengesicht ans Licht zog, verblüfft, wie geschwind er ihr auswich und mit abgewandtem Blick in den Garten entschwand, ahnte sie nicht, was in ihm vorging. Georg redete wenig im Haus des Herrn B. und gefragt wurde er selten.
Doch ab nun gab es etwas, das er sich innig wünschte, alle nur möglichen Pläne wälzte und gefährliche Wege beschritt, um sein Ziel zu erreichen: das Kino und diese Musik. Seine ganze Aufmerksamkeit nahm es ein, sein ganzes Sinnen und Trachten. Gab es, so wie das manchmal der Fall war, eine Nachmittagsvorstellung, hielt Georg sich möglichst unbemerkt in der Nähe des Eingangs auf und wartete mit harmlos unverdächtiger Miene bis der Kinobetreiber ihm den Rücken kehrte und sich in dem dämmerigen Vorstellungsraum verlor. Dann warf er alle Bedenken von sich und kroch blitzschnell hinein in das Dunkel; lugte auf allen Vieren kriechend durch die Spalten zwischen den Sitzen und bewegte sich lautlos, um ganz sicher zu sein, dass ihn niemand bemerkte, weder der geschäftige Kinomann, noch die Besucher, die allmählich daherspaziert kamen und plaudernd sich auf ihre Plätze begaben. Kaum je fiel da ein Verdacht auf den blinden Passagier.
Georg, ein Leichtgewicht, wendig und flink, kroch behände zu jenen Stellen, wo kein Auge seiner gewahr werden konnte. Der Kinoraum war nie zur Gänze besetzt, erklärte er später, ja manchmal so spärlich, dass er seitlich neben den Sitzreihen auf Knien oder Hosenboden rutschend in der Finsternis schließlich bequem den Platz wählen konnte, der ihm am besten geeignet schien. Die vorderen Reihen blieben ohnedies immer leer und Georg war klein. Selbst wenn er sich auf einen der hölzernen Sitze begab erblickte ihn niemand. Erst als er größer wurde mit den Jahren, sein eingezogener Hals, die erzwungene Krümmung und auch manches andere ihm unbequem wurde, wechselte er auf den Boden. Die wichtigsten Stunden seiner Kinderzeit habe er dort verbracht, und das über lange Zeit, erinnerte er sich; mit den Filmen, den Bildern, der wundersam sich ihm offenbarenden Welt, der Musik und den redenden, lachenden, manchmal auch weinenden Menschen auf der Leinwand. Aus ihrem Reden, im Ernst wie im Scherz, habe er manches gelernt.
Was hat denn der kleine Kerl davon, begann wer ihn in dem Dunkel erkannt und dennoch geschwiegen hatte, vermutlich zu fragen. Was kann so ein Kind, das noch gar nichts vom Leben weiß, ja nicht einmal das Nötigste über sich selber; was kann eines, das Handlungsabläufe noch nicht versteht; was könnte dieser versteckte, winzige Kinogast unter all den Erwachsenen denn dort gesucht und gefunden haben?
Nicht zu wenig, bedenkt man die mannigfachen Impulse, die Georg ohne Kinobesuche niemals gehabt hätte. Er begann von sich aus, ganz ohne Zwang, gleich mehrere Tugenden auf einmal einzuüben; seine Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu richten statt planlos die Zeit zu vergeuden; rasche Erledigung seiner Schulaufgaben und sonstigen Pflichten um immer pünktlich vor Ort zu sein; und Genauigkeit, denn er durfte sich keineswegs nachlässig bei jenen Tätigkeiten zeigen, die ihm nun einmal zugeteilt waren. Georg lernte, seinen Tag einzuteilen, pünktlich auf die Küchenuhr der Frau B. zu schauen, um rechtzeitig fortzuhuschen. Er lernte penible Ordnung, Zeitgefühl und Genauigkeit in seinem Alltag.
Dadurch ging ihm die Arbeit, zu der man ihn mit Strenge anhielt, viel flinker vonstatten. Er gewann Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, wenn er schneller war als die Kostgeber das erwarten konnten und lernte Verschwiegenheit nebenbei, weil die nun einmal nötig war. Von seiner verbotenen Leidenschaft durfte ja niemand wissen. Das erforderte Selbstbeherrschung, bei genauerer Betrachtung sogar Selbsterziehung, die ihm später in anderen Bereichen gut anstand.
Beim Hinhören und Schauen lernte er Aufmerksamkeit und Konzentration. Natürlich reichte das nicht, um Zusammenhänge einer komplexen Handlung zu erfassen, doch bemühte er sich darum sehr, es schärfte sich sein Verstand. Georg gewann eine Menge nur scheinbar nutzloser Kenntnisse, die ihm im späteren Leben dienlich sein konnten und Vorteile ermöglichen würden.
Den Kleinen faszinierte das Neue, das völlig Unbekannte an diesen Bildern. Das waren damals – es ist ja schon lange her – meist sorgfältig gekleidete Menschen, gefällig frisiert und sauber; Menschen, die Schuhe trugen und freundlich lächeln konnten, Männer und Frauen. Interessant waren auch ihre Reden, Bewegungen, ihr ganzes emsiges Tun. Menschen waren das, wie Georg sie nie erlebt hatte, die ihm zu fehlen begannen, wenn er an den alltäglichen Orten ankam, in der Schule, im Haus, im Garten. Die freundlichen Gesichter fehlten ihm, ohne dass er Näheres von ihnen wusste. Im Film redeten alle meist ohne Scheu und sichtbaren Hinterhalt. Sie lächelten, lachten, was Georg gern nachzuahmen versuchte. Durch Nachahmung lernte er schließlich auch das, was man vielleicht sogar Charme hätte nennen können, der sonst wohl keinem aus seiner Umgebung je abzuschauen war.
Die Unbeschwertheit, mit der die Menschen im Film einander begegneten bezauberte ihn. Auch ihre Gewohnheit höflich zu grüßen, zu bitten, zu danken. Wie sie, die Herren, den liebenswürdigen Damen Blumen schenkten, oder den Vortritt ließen! Das alles erschien Georg ganz wunderbar, schön und nachahmenswert. Man saß bei Tisch, speiste mit Messer und Gabel, während Georg meist nur mit dem Löffel die Dinge in sich hineinstopfte. Bald begann er zu ahnen was heiteres Geplauder war und nahm sich vor, das einmal auszuprobieren, auf andere zu schauen und auch zu hören, was sie von ihm wissen wollten. Ihnen würde er antworten wie einer der freundlichen Herren auf der Kinoleinwand. Er betrachtete deren Kleidung und nahm sich vor, eines Tages auch so einen feinen Anzug zu tragen wie sie, aber jetzt schon, zumindest am Abend, seine Hosen vom Staub zu befreien, sie auszuschütteln und nicht achtlos auf den Boden zu werfen. Nie sah er einen dieser Männer barfuß gehen, die Frauen auch nicht. Sie trugen Socken oder Strümpfe. Georg beobachtete da sehr genau. Wenn, was er sich sehnlich wünschte, einmal ein Mädchen ihn ansprach, würde er in Schuhen vor ihr stehen, ihr zuhören und auf ihre Freundlichkeit freundlich antworten. Dass es solche Menschen wie in diesen Filmen überhaupt gab, grenzte beinah an ein Wunder, denn höchst selten reagierten sie mit Geschrei und Geschimpfe, und Ohrfeigen setzte es so gut wie nie.
Nach und nach wurde Georg ein anderer. Nie, das nahm er sich vor, würde er aufhören ins Kino zu gehen. Das Überraschende nämlich, sicherlich auch das Schönste an diesen Filmen war die Liebe. Und am allerschönsten ein Kuss. Daran dachte er wieder und wieder, weil er sich nicht erinnern konnte, jemals geküsst zu haben oder gar geküsst worden zu sein.
Читать дальше