1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 „Wir wollen euch helfen“, sagten sie ernst, „der Große dort auf der Terrasse, der mit den leuchtend roten Haaren und den fast weißen modernen Hosen, der ist Hauptschulsprecher der Schule und geht gerade auf der Terrasse auf und ab, was sein Privileg ist. Ihr geht jetzt hinüber zu ihm, wenn ihr Strafe vermeiden wollt, und ruft ihn Leuchtturm als Vorschriftsgruß zu. Dann habt ihr ihn beim Namen gegrüßt, und er wird euch nicht bestrafen dürfen. Aber seine Terrasse ja nicht betreten!“
Nun, wir wussten schon, dass man keinen Lehrer und keinen Schulsprecher mit Spottnamen ansprechen durfte. Und es kam uns merkwürdig vor, dieser Name für einen Rothaarigen! Er ging mit einigen anderen auf der privilegierten Terrasse auf und ab, sodass er Zeugen gehabt hätte, wenn wir von fern „Leuchtturm“ gerufen hätten. So bedankten wir uns sehr höflich für die freundliche Auskunft und sagten, wir würden morgen die amtliche Begrüßung vorschriftsmäßig durchführen, wenn wir ganz sicher seien, dass er wirklich so hieß. So dumm waren mein Bruder und ich nicht. Ein Schmähname wie Leuchtturm als Gruß hätte uns sechs Hiebe mit der Peitsche gekostet, denn der Rothaarige war bekannt als arrogant und humorlos. So lernten die älteren Schüler des Internats die Neuangekommenen kennen und merkten bald, ob sie etwas Grips hatten oder nicht. Wehe dem Jungen, der von Natur aus gutgläubig war, er wurde von den meisten so gehänselt, bis sie es ihm ausgetrieben hatten.
5. Disziplin und Erziehung im alten Stil
Morgens, pünktlich um 7.00 Uhr, wurden wir von einer großen Handglocke draußen auf der Wiese geweckt. Der alte Gärtner ging durch die Häuser und schwang die große Glocke hin und her, sodass jeder (theoretisch) wach wurde. Der Mensch ist aber zur Gewöhnung verurteilt, denn oft hörte ich die Glocke nicht. Aber die anderen weckten einen dann, denn sie mussten auch aufstehen. Um 7.20 Uhr stand der Hausmeister oben an der großen Treppe unseres Hauses und rief laut „Tallyho“ (das ist der Ruf eines Jägers, der gerade einen Fuchs wittert). Mit diesem Ruf stürzten dann alle „Jäger“, d. h. Jungen, ihm nach die Treppe hinunter. Wer mit seiner Toilette nicht fertig war, wenn der Hausmeister die Tür zum Saal schloss, war zu spät. Wer in dem Saal noch an seinem Schlips oder Kragen herumarbeitete, der galt auch als zu spät gekommen. Wer ein schmutziges Hemd anhatte, der galt auch als – nach dem Gesetz der Meder und Perser – zu spät gekommen. Das Zuspätkommen zum morgendlichen Appell wurde bestraft. Die Namen aller Jungen wurden alphabetisch aufgerufen, und jeder musste mit „adsum“ (ich bin zugegen, in Latein) antworten. Es kostete damals zwei Schläge mit der Rute, wenn man nicht antwortete. War man feige, konnte man unter Umständen die zwei Schläge in 200 „Zeilen“ umtauschen lassen, was bedeutete, dass man 100- oder 200-mal schreiben musste: „Ich darf nicht zu spät zum Appell auftauchen“ oder „Ich muss mich für den Appell richtig und rechtzeitig anziehen“. Aber man zog meist die Peitsche vor. Es war eben ehrenvoller!
Bei Mädchen gebrauchte man damals die Peitsche selbstverständlich nicht, dafür waren sie eben Mädchen!
Schulen, die die Peitsche abschafften, schafften sie ab, weil sie Mädchen statt Jungen hatten. So hieß es unter den Jungen, Disziplin dieser Art schadet nicht, solange man gute, gerechte Schulmeister finden konnte, um das System zu verwalten. Sobald aber verweichlichte, ungerechte Lehrer auftauchten, ging es nicht mehr. Gerade solche wurden brutal, sodass das System auseinanderzufallen drohte.
6. Miseren des Internatslebens
Unter der Aufsicht von Mr. Record, dem Vizepräsidenten des Internats, hatte ich mit Latein und Französisch nie wieder Mühe gehabt. Disziplinarisch war Mr. Record, den wir „Chew“ nannten, weil er immer mit dem Mund arbeitete, eisern. Aber er war ein frommer, gerechter Mann, den wir alle respektierten. Jeden Sonntagmorgen inspizierte er persönlich alle 700 Schüler, die geschlossen in die Stadt zu den verschiedenen Kirchen marschierten. Die Eltern entschieden, welche Kirchen besucht wurden. Mr. Record merkte sofort, ob ein Kandidat für den Kirchgang ein weißes oder ein nicht mehr ganz weißes Hemd trug. Ob sein schwarzer Schlips bekleckert war. Ob sein Taschentuch weiß war. Oft verlangte er aufs Geratewohl, probeweise, das Taschentuch, das während des Vorbeimarsches produziert werden musste. Weh dem Jungen, der keines hatte oder der ein Taschentuch hervorzog, das nicht so aussah wie eine Reklame für Waschpulver. Ein solcher Kirchgangkandidat musste aus den Reihen hervortreten, ein frisches Taschentuch holen, während die ganze Schule ungeduldig auf ihn wartete. Solche Schüler waren nicht populär. So wirkte Mr. Records Disziplin förderlich – die Jungen sorgten letzten Endes selbst für Ordnung!
Obwohl unser Direktor Mr. Record den Beinamen „Chew“ trug, wehe dem Schüler, der mit Kaugummi oder ähnlichen Scheußlichkeiten im Mund erwischt wurde! Wer in der Klasse kaute, spielte direkt mit seinem akademischen Schicksal. Was man im Mund hatte, war eine rein private Angelegenheit, wovon andere gar nichts merken durften.
Andere „Wehen“ unseres Internats folgten schnell: Wehe dem Jungen, der mit Händen in den Hosentaschen mit einem Lehrer – oder sonst einer reifen Person – sprach. Wenn ein solcher über so wenig Feinfühligkeit verfügte, bekam er zuerst eine Reihe von bissigen, verschleierten Bemerkungen, die ihn höflich auf seine Salonunfähigkeit aufmerksam machen sollten. Wenn er aber derart stumpfsinnig war, dass er gar nichts merkte – solche gab es schon damals – konnte er mit der Zeit eine direkte, scharfe Bemerkung erwarten: „Zieh die Hände aus der Tasche, wenn du mit älteren und auch besseren Personen sprichst!“
Dreimal im Jahr bekamen alle Eltern über ihre Kinder ein Schulzeugnis – direkt nach Hause geschickt. Nicht nur die akademische Leistung des Schülers wurde beurteilt, sein allgemeines Verhalten und sein Fortschritt in der Entwicklung von „Schliff“ wurde schriftlich mit entsprechenden Beweisen festgehalten. Frechheit war ein schwerwiegendes Vergehen, besonders älteren Menschen gegenüber.
In der Schulkapelle, wo im Sommer morgens und abends ein Gottesdienst vom Schuldirektor oder von einem Pfarrer abgehalten wurde, wurde sehr auf Benehmen geschaut. Anständig gekleidet musste man sein – man trug eine Schuluniform, damit die Schüler sich nicht gegenseitig wegen Bekleidung „die Augen ausstechen konnten“. Jungen können nicht minder eitel sein bezüglich Bekleidung als Mädchen! Wehe dem Jungen, der vor Gott mit den Händen in der Hosentasche betete, oder sonst erschien! Eine Beleidigung der Majestät Gottes!
Hängt die heutige Formlosigkeit und Undiszipliniertheit mit dem Zerfall unserer ganzen westlichen Gesellschaft zusammen? Ich meine ja! Denn man empfindet vor nichts Respekt, weder vor Menschen, noch vor Gott, noch vor dem Alter. Alles ist erlaubt. Auch das, was sich nicht schickt. Die Konsequenzen liegen heute vor unseren Augen.
Damit möchte ich gar nicht gesagt haben, dass diese spartanische Erziehung nie fehlschlug. Es gibt Menschen, die unreformierbar sind, und solche gab es auch bei uns im Internat. Es gab bei uns im Taunton viel Unsittlichkeit. Die älteren Schüler brachten oft lose Mädchen ins Internat – sie gaben sie als Kusinen oder andere Verwandte aus. Die Gesprächsthemen in den Schlafzimmern waren meist sexueller Art. Schmutzige Witze waren oft die Regel, obwohl es edle Schüler gab, die nicht mitmachten. Solche galten oft als prüde.
Ich kenne christliche Internate, für die diese negativen Aussagen kaum gelten. Aber in den rein säkularen Schulen ist Unsittlichkeit oft die Regel. Solche kann ich deshalb nicht empfehlen. Wir haben unsere Kinder auf christliche Internate geschickt, da war die Atmosphäre besser. Die Gefahr in solchen christlichen Internaten ist die einer Treibhausatmosphäre: Gesetzlichkeit und auch Heuchelei können in solchen Internaten, die wohl einen christlichen Direktor hatten, wo aber auch nichtchristliche Lehrer mitwirkten, auftreten. Da konnten die Kinder selber die Unterschiede zwischen Christen und Nichtchristen sehen und sich selbst ihre eigene Meinung bilden. Da waren die christlichen Lehrer oft wirkliche Lichter in einer Welt, die zum großen Teil nicht christlich war. Auf diese Weise wurden sie auf die wirkliche Welt, wo Christen in einer nichtchristlichen Welt leuchten müssen, vorbereitet.
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