Nienke Jos
Die Angst der Schweigenden
Thriller
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2021 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © FrauG / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6564-2
Nicht pünktlich, nicht zu spät, sondern viel zu früh.
Schon mit ihrer Geburt, knapp sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin und eine ganze Stunde bevor ihr Vater überhaupt im Kreißsaal eingetroffen war, war sie mit dem ersten Schrei an seiner Enttäuschung vorbeigerauscht, hatte ihn abgehängt, bei jeder Gelegenheit und mit leichtem Gemüt, während ihm das gestohlene Erlebnis ihrer Geburt bis heute fehlte.
Oder auch nicht.
Vielleicht hatte Henri sie nie geliebt, weil er ihre Geburt verpasst hatte. Vielleicht hatte er ihre Geburt verpasst, weil er sie nie geliebt hatte.
Vielleicht.
Vielleicht war das Erlebnis ihrer Geburt vergänglich, so, wie Glück und Freude vergänglich waren. Und vielleicht hätte es keinen Unterschied gemacht, ihr Vater hätte sie trotzdem nicht geliebt. Nicht mit ihrem ersten Schrei, nicht mit ihrem letzten. Jetzt war Henri tot, und übrig blieb nur, dass Inna noch immer zu früh war und nichts früh genug sein konnte, auch nicht an diesem Morgen.
Sie tänzelte in die Küche, und obwohl es niemanden gab, den sie mit ihrer morgendlichen Geschäftigkeit stören konnte, bewegte sie sich lautlos, leichtfüßig, wendig. Sie öffnete die Kaffeedose, genoss den feinen Geruch gemahlener Bohnen, ihre Handgriffe sicher, geübt, routiniert. Trotz der Gänsehaut, trotz des beständigen Fröstelns. Wie ein hauchfeiner Überzug, der sie begleitete, warnte, zurückhielt. Der an ihr klebte wie getrocknetes Blut.
Inna wartete, bis die Maschine das Röcheln aufgegeben hatte, keinen Laut mehr von sich gab. Goss den heißen Kaffee in ihre Tasse, der Dampf drängelte sich an ihrer Nase vorbei, verschwand irgendwo und nirgendwo.
Wie Nebel, dachte Inna.
Sie huschte ins Bad, ihren Blick aus dem kleinen Fenster in die Dunkelheit gerichtet, die oberste Kante der Sonnenscheibe hatte sich noch nicht über den wahren Horizont erhoben.
Und dann hörte sie es wieder. Das kaum merkbare Rascheln.
Inna hielt die Luft an, ihre Arme hoch über dem Kopf verschränkt, das Haargummi an ihrem Handgelenk schnürte die Blutzufuhr ab. Sie ließ ihre Finger vorsichtig herausgleiten. Kein weiteres Geräusch, nichts, was Inna verdächtig vorkam, wenngleich ihr die Stille in der Wohnung plötzlich Unbehagen bereitete. Inna drehte sich rasch zur Tür. Die geheimnisvolle Ruhe künstlich, unnatürlich, beängstigend. Sie spürte einen Hauch, einen Luftzug aus der Ferne, der ihre winzigen Nackenhärchen aufstellte.
Wie empfindlich sie war, dachte Inna. Eine lästige Eigenschaft. Hin und wieder konnte sie über ihre Angst sinnieren, sie einfangen, sie belächeln. Heute Morgen nicht. Allein in ihrem Haus um halb fünf in der Früh, die Tiere im Wald schliefen noch, kam ihr die Angst unbändig vor. Ihr erschien die Luft wie zum Zerreißen gespannt, vielleicht rührte daher das Rascheln, sie hatte es sich eingebildet, nichts von echter Bedeutung, von welcher auch?
Sie rümpfte die Nase. Ihr Spiegelbild lächelte schief.
Bald würde der kleine Ort strebsam an seiner Geschäftigkeit arbeiten. Menschen. Hier und da Gedrängel. Weihnachtskäufe. Vielleicht sollte sich Inna daruntermischen. Dann konnten sich keine verdächtigen Geräusche über gespannte Nerven legen. Dann würde sie es nicht mehr hören, das Rascheln. Es würde einfach verschwinden.
Eins, zwei, drei.
Inna duschte, schob den Vorhang in unregelmäßigen Abständen zur Seite, den Flur im Blick. Dampf krabbelte hinauf, zur Hälfte war der Spiegel bereits beschlagen, es machte sie nervös. Sie drehte das Wasser ab, lauschte, hörte winzige Schaumbläschen zerplatzen. Sie stieg aus der Dusche, trocknete sich ab, ihre Bewegungen jetzt weniger grazil, eher hektisch. Sie wickelte sich das Handtuch um den Körper. Viertel vor fünf. Zeit, dass die Eichhörnchen in ihrem Garten erwachten und sie mit überschwänglichem Geräuschpegel empfingen.
Aus dem Kleiderschrank zog sie ihre graue Jeans hervor, dazu eine weiße Bluse. Sie ließ ihre Fingergelenke knacken, es lenkte sie ab, beruhigte sie, manövrierte ihre Angst zurück in die Mitte ihrer pragmatischen Einstellung.
Inna setzte sich an den Tisch, las Zeitung, schaute mehrmals auf, war unkonzentrierter als an anderen Tagen. Niemand hier, beruhigte sie sich. Da waren nur ihre geschärften Sinne.
Und trotzdem.
Etwas lag in der Luft.
Nicht nur das Rascheln. Noch etwas anderes. Etwas Unheilvolles.
Von wem bloß hatte sie diese Antennen?
Sie waren für nichts gut, fand Inna.
Schon damals nicht.
Jenke lief und lief, den Kopf eingezogen, sein Gesicht vergraben. Er eilte über gerostete Schienen und an Mauerresten vorbei. Er fror, dachte an den Tod. Tagein, tagaus. Daran zu denken, war eine Selbstverständlichkeit. Der Tod hatte seine Zuneigung, hielt ihn im Fahrwasser. Es war fast wie eine Schwärmerei, für die es sich zu leben lohnte.
Die Bänke zwischen den heruntergekommenen Wanderwegen verlassen und leer. Schienen getränkt in saftigem Moos und giftigem Farn. Eine raue und gefährliche Gegend, weitab von vorweihnachtlicher Stimmung, weitab von Glühweinbonbons und Räuchermännchen.
Jenke steuerte auf den alten Rostbahnhof zu. Es genügte ein kurzer Blick an dem Gebäude vorbei und er entdeckte, wonach er suchte: Der alte Mann lag dort in seine Decken gehüllt, neben ihm Tüten, Taschen, ein Rucksack. Ohne zu zögern, stürzte er sich auf ihn und drückte zu, während der Penner seine Augen aufriss und keinen Laut von sich gab. Nicht einmal ein Gurgeln oder Röcheln. Nichts. Der Alte zappelte und strampelte, aber Jenke war schwer und groß. Fasziniert von den weit aufgerissenen Augen kostete er den Moment aus, obgleich er wusste, dass er eine Straftat beging. Es war die stumme Begeisterung, mit der er dem Mann etwas schenkte, was er selbst so sehr begehrte.
Es dauerte.
Der Penner war betrunken.
Vielleicht lag es daran. Vielleicht aber auch daran, dass sich der Obdachlose eines Lebenswillens bediente, den er selbst nicht aufzubringen vermochte.
Endlich hörte der Penner auf zu atmen.
Stille.
Jenke ließ von ihm ab, richtete sich auf, schaute sich um. Niemand weit und breit. Nur die Dunkelheit.
Er betrachtete seine Hände.
Читать дальше