Hier lässt es sich leben: Flachdachbungalow – ein gemütliches Heim, hinter Jägerzaun und Vorgarten das Haus. Vor der Terrasse das Grundstück abschüssig, eine Wiese, große alte Bäume, zwischen denen Stufen an den See führen. Hier unten füttern sie Enten und Blässhühner. An einem Steg ein Ruderboot. Früher ist der Alte manchmal mit seiner jungen Frau auf den See gerudert. Verliebt, ein brillanter Erzähler, angenehmer Mann, immer bewundert, überzeugend, gewinnend. Alles könnte gut sein, fügte er sich, widerspräche er nicht, schriebe er Abhandlungen über gelebten, erlebten Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, über Chancen zur Überwindung des kapitalistischen Systems. Keine Verbiegung, nur Anpassung. Wandlungsfähigkeit statt Starrsinn.
Zufriedenes Leben. In der Dämmerung kommen die Waschbären auf die Terrasse, um sich am trockenen Abendbrot satt zu futtern. Vorhaustiere.
Rückkehr in die Burgwallstraße. Müller will nicht nur die Geschichte für das Magazin. Müller will Roberts Geschichte. Er will wissen. Er, der Junge, damals in Halle an der Saale am 17. Juni, und der Alte aus Grünheide, damals noch Stalinist, oder?
„Es waren die Tage der Entscheidung, für mich und nicht nur für mich allein.“ Versuch einer Erklärung.
„Du warst Stalinist“, sagt Müller.
„Was heißt das? Ein Klischee, mein Lieber. Wir waren Stalinisten, weil Stalins Rote Armee uns befreit hatte, weil er dieses Deutschland befreit hatte, zusammen mit den Amerikanern, den Engländern, den Franzosen. Aber in Berlin hat die Rote Armee dem nationalsozialistischem Terror ein Ende bereitet.“
„Und neuen Terror gebracht.“ Sagt Müller.
„Das wissen wir heute. Damals war ich in Brandenburg inhaftiert, Kommunist wie Honecker. Wir haben, beide ‚Politische‘, unabhängig voneinander überlebt. Überlebt! Dann kamen die Russen, und wir waren frei!“, sagt Robert.
„Und nun hat dein Mitgefangener Erich dich unter Hausarrest gestellt!“
„Ein Verblendeter, Apparatschik, in Macht erstarrt, er glaubt, richtig zu handeln, hält sich für fortschrittlich – und ist es auch im Vergleich mit Ulbricht, nur dass er mit anderen Mitteln praktiziert“, sagt Robert.
„Warum bist du nicht in den Westen gegangen wie Herbert Wehner, Carola Stern, Ralf Giordano?“
„Vielleicht, weil ich nicht in Moskau war und nicht Stalins Säuberungsaktionen erleben musste. Weil ich an das neue Deutschland glaubte, an die einmalige historische Chance.“
Havemann als Verächter der Flüchtenden, aller, die in den Westen gehen, ihr Land verlassen, der Abhauenden, der Verräter, der Feiglinge. Havemann, der kein Verständnis für den Sohn hatte, dem Wolf Biermann, der Gerechte, Selbstgerechte, ein Schmählied schrieb, das ein Leben zerstörte.
„Und wann hast du deinen Irrtum begriffen?“, fragt Müller.
„Eine Vision ist kein Irrtum. Die Vision von einer sozialistischen Gesellschaft ist kein Irrtum. Es war die Erkenntnis, dass Diktatur nicht zum Ziel führt. Jeder Versuch, eine Vision mit den Mitteln der Diktatur zu verwirklichen, muss scheitern.“
Und hier treffen sich die Erlebnisse des Fünfzehnjährigen aus Halle mit der Analyse des Wissenschaftlers aus Berlin. Das trennt die beiden: Der eine floh und kehrt nun doch zurück, der andere blieb, weil er bleiben musste.
Im Außenministerium der DDR beobachtet man seit einiger Zeit ein wachsendes Interesse der Westmedien. Die Berichterstattung beschränkt sich nicht auf die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Es erscheinen immer häufiger Beiträge über renitente Künstler wie Biermann und „Bürger mit antisozialistischer Gesinnung“.
Wilhelm hat geahnt, dass der stern nach den ruhigen Zeiten mit Nick Barkow sich intensiver mit der DDR beschäftigen würde. Er hatte freilich nicht geahnt, welche Schwierigkeiten der Neue bereiten würde. Müller wird zur Belastung. Ihn zu betreuen, ist eine undankbare Aufgabe. Alle Informationen, alle Berichte, alle Aussagen über Müller erreichen Wilhelm, sie beanspruchen ihn. Müller bedeutet Arbeit, Überraschungen, aber auch Überraschendes. Der Genosse im Außenministerium erhält Material, aus dem sich ein Psychogramm entwerfen lässt: Ess-, Trink-, Schlaf-Gewohnheiten, Bewegungen, Müllers Verhalten beim Geschlechtsakt, seine Sorglosigkeit im Umgang mit Schriftstücken und Notizen, wobei es auch möglich wäre, dass der Beobachtete seine Beobachter auf falsche Fährten lockt. Oder sollten drei, vier Briefe von einer Bekannten aus Westberlin unbeabsichtigt im Abfall gelandet sein?
Müller ahnt nicht, wie genau Wilhelm sich mit ihm beschäftigt, ihn kennt, immer näher kennenlernt, hört nicht die feine Ironie in der Stimme seines Wächters, spürt nicht das Erstaunen über seine unerwarteten Reaktionen – zwei Schachspieler, bei denen jedes Spiel im Remis enden muss. Wilhelm versucht aus dem Verhalten Müllers Erkenntnisse zu gewinnen, um so dessen Schritte bewerten, voraussehen zu können.
Meyer erwartet regelmäßig Berichte über die Korrespondenten aus der BRD, die mit wenigen Ausnahmen Ruhe bewahren, sich an die Vorschriften halten, über die politischen Ereignisse berichten, über die Vorbereitungen zu einem Treffen des Staatsratsvorsitzenden mit dem Bundeskanzler, Artikel zu Messen, offizielle Erklärungen. Probleme bereiten vor allem die Korrespondenten des Spiegel , dessen Büro bereits zweimal geschlossen werden musste, und die Fernsehkorrespondenten, die sich intensiv mit den subversiven Kräften beschäftigen und ihren so zu unangemessener Aufmerksamkeit verhelfen.
Müller verstärkt die Gruppe der Schwierigen. „Der Mann ist unberechenbar“, erklärt Wilhelm, nachdem das Dossier über den ersten Besuch in Grünheide vorlag. Seit der renitente Philosoph unter Hausarrest stand, hat ihn keiner der Journalisten besucht, haben alle auf einen Kontakt verzichtet.
„Wir müssen ihn aufhalten, zurückweisen“, fordert der graue Doktor Otto.
„Wir können ihn nicht zurückweisen“, wendet Genosse Meyer ein. „Die Korrespondenten genießen einen diplomatischen Status.“
„Außerdem“, so Wilhelm, „auch das wäre für ihn sofort wieder eine Geschichte.“
1945, das Ende des Krieges, die Befreiung für die Überlebenden in den Ruinen, in den Konzentrationslagern, in den Gefängnissen. Für die Emigranten war Hoffnung, auch für Robert Havemann und Erich Honecker, war die Chance zu einem Neubeginn; und viele sahen die bessere Zukunft im Osten, die Möglichkeit zur Neugestaltung eines Landes, unabhängig von Industrie und Kapital, scheinbar frei von alten Nationalsozialisten, von denen es doch auch viele gab, die auch für den Aufbau des Sozialismus genutzt wurden. Aber: sie waren nicht Teil der Machtelite wie in der Bundesrepublik, in der Hitlers Getreue neue Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und Geheimdiensten schamlos übernommen hatten.
Hier in der DDR dagegen schien ein neuer Geist Großes zu schaffen: Arbeiterenthusiasmus, Fortschrittsglauben, Aufbau, Hymnen, denen da drüben beweisen, was möglich ist: Auferstanden aus Ruinen … Die Versprechungen erfüllten sich nicht. Schuften für die Industrie („Max braucht Wasser!“) ohne gerechten Lohn bei Mangel an Lebensmitteln und Konsumgütern. Dazu die fortschreitende Etablierung der Diktatur – die „Gruppe Ulbricht“ erfüllte den Moskauer Auftrag nach sowjetischem Vorbild, unter der Kontrolle der Besatzungsmacht: Zwangsvereinigung von KPD und SED, Verfolgung, Verurteilung, Hinrichtung vermeintlicher Kollaborateure und Staatsfeinde, Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Terrorjustiz, Ausschaltung Andersdenkender, Unterdrückung aller Reformansätze, Denunziation und Isolation von Journalisten, Schriftstellern, Künstlern, tausende politische Gefangene. Die Diktatur mit dem Beginn ihrer Selbstzerstörung, der Anfang eines jahrzehntelangen Siechtums.
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