„Die alte geht noch immer, sie ist gut in Ordnung, reicht völlig für hier draußen“, sagt sie und lacht. Sie beobachtet ihn und weiß, was er will: sie. In ihm der Wunsch nach ihrer Nähe. Sie ist unerreichbar. Er fühlt sich tapsig, kompliziert. Ein schwieriges Unternehmen. Verheiratete Frau mit Kind, eine Autostunde von der Stadt entfernt, ohne eigenen Wagen, geliebt von ihrem Mann, verehrt, begehrt von anderen. Es gibt Leichteres.
Der Kaffee für die Gäste aus der Stadt, nach langer Fahrt. Essen wird aufgetischt. Neben ihr auf der Ofenbank. Die grünen Kacheln kräftig aufgeheizt, der Rücken wohlig warm. „Gemütlich hier“, sagt er. „Wir haben noch eine geschnitzte Ofenbank zu Hause, von meinem Großvater in Halle.“
„Du kommst aus Halle? Ich denke, du kommst von drüben.“
Das „Du“ hat Schmitt mit der Vorstellung organisiert. „Das ist der Dieter, und das ist auch der Wolf, und das ist die Brigitte!“ Hier sagen alle Du zueinander.
Er erklärt sein Ost-West-Leben, Kindheit und Jugend in der Stadt an der Saale, Flucht in den Westen, berufliche Karriere, Arbeit in Westberlin, Rückkehr als Korrespondent in der DDR. Sie sagt: „Wir haben auch in Halle gelebt, in Dölau.“ Ihr Vater war Oberarzt in einer Lungenheilstätte. Danach sind sie nach Wittenberg gezogen. Als sie nach Halle zurückkam, ins Internat der Franckeschen Stiftungen, hatte er die Stadt schon verlassen, über Berlin, in den Westen.
„Abgehauen?“, fragt sie.
„Abgehauen, wie so viele aus der Klasse.“
„Und jetzt bist du wieder hier? Ist das nicht merkwürdig?“
„Eigenartig, ja.“
„Warum bist du zurückgekommen?“
„Um dich zu treffen“, sagt er und ahnt noch nicht, dass es stimmt. Sie lacht.
„Wo hast du gewohnt?“, fragt er.
„In Dölau“, sagt sie, „beim Krankenhaus.“
„Ich kenne dich. Du bist das kleine Mädchen auf dem Weg zum Waldsee. Immer wenn ich mit dem Fahrrad zum Waldsee unterwegs war, ist mir ein kleines lachendes Mädchen mit braunen Haaren begegnet“, sagt er.
„Du hast ja Phantasie.“
„Doch, doch“, sagt er. „Und nun sitze ich neben dir. Das soll so sein.“
Empfang in der Botschaft, die nicht Botschaft heißt, denn das wäre die Anerkennung von zwei Staaten in Deutschland – und auch wenn es zwei Staaten sind, durch Grenzen voneinander getrennt, mit eigenen Parlamenten, eigenen Gesetzen, eigenen Armeen, eigener Währung, eigenen Staatsbürgerschaften. Erforderliche Wortklaubereien. Diplomatie. Staatsrecht. Während der Staatsmaler und Oberregulierer der bildenden Kunst, Willi Sitte, Ralf Winkler, der unter dem Namen A. R. Penck im Westen mit seinen Bildern bereits anerkannt und gefragt ist, den Dresdner Maler einen Schmierfinken nennt, „den wir hier nicht brauchen“, hat der „Nicht-Botschafter“ sondern „Ständige Vertreter“ Klaus Bölling den Mann mit dem Hut eingeladen, der verkündet, jeder Mensch sei ein Künstler, der, selbst im Westen, mit Fettecken, Schlittenrudeln, Krankenbetten irritiert, niemals offiziell ins Land des sozialistischen Realismus gebeten worden wäre. Beuys ist ein Exot, nicht eine einzige Installation hätten sie ihm in der DDR gestattet, ihn stattdessen einen Pfuscher, Revanchisten, Spinner gescholten.
Zu Beuys wollen sie alle – die in Vorschriften und Genehmigungen eingezwängten Maler, Bildhauer, Schriftsteller und selbst ihre Verweigerer, die Partei-Kulturfunktionäre kommen, diskret, haben nichts zu sagen, sagen nichts, könnten sich in diesem Fall aber durchaus einverstanden erklären – Beuys zeigt Zeichnungen aus den Anfängen seiner künstlerischen Arbeit. Müller wartet nicht auf Beuys, Müller kennt ihn, den Radikaldemokraten, der sich für die neue Politik der grünen Bewegung engagiert. Müller wartet auf die Frau vom Lande. Er wartet vergebens. Sie und ihr Mann kommen nicht.
Die STäV , die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR. Ein Neubau in der Hannoverschen Straße, schräg gegenüber dem Eckhaus, in dem Wolf Biermann seine aufmüpfigen Texte gegen die vergreisten Genossen schrieb, ein paar hundert Meter vom Brechthaus und vom Dorotheenstädtischen Friedhof entfernt. Die STäV hat alles, was zu einer diplomatischen Vertretung gehört, wie Wirtschafts- und Kulturabteilung und Pressestelle. Der Kontakt zu den Korrespondenten ist besonders wichtig, weil die Beziehungen zwischen West und Ost sensibel sind, weil Äußerungen der DDR-Führung seismografisch registriert und analysiert werden. Es sind Hinweise für die Journalisten, die daraus in ihren Berichten unterschiedliche Schlüsse ziehen. Sie werden in die „Laube“ gebeten, einen abhörsicheren Metallraum, aus dem nichts herausdringen soll. Hier werden Tendenzen innerdeutscher Beziehungen „unter Drei“, nicht zur Veröffentlichung bestimmt, bekannt gegeben. Alles gilt als irgendwie brisant, die Teilnehmer als verschworene Gemeinschaft, wichtige Geheimnisträger. Günther Gaus, der erste Mann aus Bonn in der DDR, zelebriert die Treffen gekonnt lässig. Er, Ex-Chefredakteur und TV-Gastgeber, beherrscht Unterhaltung in jeder Form. Ein Moderator, der die Laubenstunde zum angenehmen Ereignis macht, selbst wenn es nur wenig Neues gibt. Gaus macht die STäV zum offenen Haus, nicht nur für West-Journalisten, sondern auch für Künstlervolk aus dem Osten. Abende, die beim Wein in heiterer Runde bis weit nach Mitternacht andauern. Sein Nachfolger ist um Fortsetzung bemüht, freilich mit zeitlich begrenzter Sperrstunde der Geselligkeit. Die Unterschiede erklären sich mit dem Wechsel in Bonn – Gaus ist der Mann Willy Brandts, Klaus Bölling der Abgesandte Helmut Schmidts.
Brigitte B. in den Kleveschen Häusern. Sie arbeitet an der Holzskulptur aus dem 16. Jahrhundert, ein halbes Jahrtausend überdauert, festigt, retuschiert. Zufrieden. In Ruhe. Ungestört auf der Insel ihres Gartens. Gelegentlich Besuch von künstlerischem Landvolk, Verehrern, Sommergästen aus der Stadt am Wochenende. In diese Welt bringt der Fremde aus dem Westen Unruhe, seine Hartnäckigkeit, Grüße, kurze Mitteilungen. Unmissverständliche Werbung bedeutet Störung, Ungewissheit. Trotzdem beschäftigt er sie. Neugier. Sie spricht mit ihrer Freundin, so wie sie alles mit Jutta bespricht. Jutta, Model für Exquisit , das besondere Luxuslabel der DDR. Mit der „Modekiste“ unterwegs. Vorführungen in allen Teilen der Republik zwischen Rügen und Erzgebirge, mit Damenkleidung, die es nicht zu kaufen gibt.
Zu besonderen Anlässen wird das Modelteam zu den Obergenossen nach Wandlitz beordert, zur Vorführung von Ober- und Unterbekleidung, Negligés für die Honecker-Führungsriege, Lustvolles für die Graumänner, die meinen, alle Frauen in der Republik, in ihrer DDR, könnten sich leisten, was sie anschauen.
Frauen unter sich. „Sie interessieren sich für uns, die Westmänner. Wir sind die exotischen Frauen aus dem Osten. Sie sagen, wir hätten etwas Besonderes.“
„Vielleicht, weil wir so hilfsbedürftig sind?“
„Oder so selbstbewusst! Das vermutet Lothar.“ Lothar Loewe, der ARD-Korrespondent in der DDR, verehrt Jutta.
„Was ist mir dir?“
„Ich weiß nicht. Aber – es könnte Komplikationen geben …“ „Tu, was du möchtest.“
„Was will ich?“
„Interessiert er dich?“
„Kann sein, irgendwie aufregend.“
Zur Akkreditierung des stern -Korrespondenten in Ostberlin veranstaltet der Verlag ein Fest in einem der wenigen feinen Restaurants an der Spree: Mit exquisiten Speisen und Getränken, Champagner und Weinen aus dem Kaufhaus des Westens , der Lieferadresse des Staatsratsvorsitzenden und seiner Genossen in Wandlitz. Zweihundert Gäste, Deutsche aus zwei deutschen Staaten, die einen haben die Mauer- und Stacheldrahtgrenzen mühelos passiert, die anderen sind hier, in der „Hauptstadt der DDR“ zu Hause. Ein Dialog, Ost-West-Gespräche zwischen Funktionären, Partei-Journalisten, Künstlern und Klaus Bölling, dem neuen Diplomaten aus Bonn.
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