Aber warum versammeln sie sich hier, als gäbe es hier etwas zu sehen? Sogar die Žvainienė, auch die kommt angekeucht, hat ihr Asthma vergessen, und mit ihr noch eine andere Frau. Ja, kommt nur alle angerannt, lauft nur, der Zirkus ist hier.
Da er die Gaffer nicht anschauen will, hebt der Alte den Blick – über den Bäumen zur Rechten ragt weiß der Kirchturm empor. Wie weiße Schafe hüpfen die Wolken von den Maiwinden getrieben an ihm vorbei. Der alte Laurinavičius bedauert, dass das alles schon so weit zurückliegt – das fast tägliche Emporsteigen der alten Wendeltreppe, das Dröhnen der Glocken. Auch heute läutet man die Glocken, lädt zum Gottesdienst, nur anders – jetzt bewegt Elektrizität die Glocke. Jetzt klingt sie immer gleich und irgendwie leblos. Rhythmisch und leblos. Bim, bim, bim. Wie ein riesiger Eimer.
„Da hast du dir aber wieder mal was ausgedacht“, hört Laurinavičius die Stimme seines Nachbarn Baliesius.
„Der Baliesius hat eine Leiter gebracht“, ruft von unten seine Malenija, „schau mal, ob du sie irgendwie zu packen kriegst.“
Wie sollte er auch, die unteren Äste hat er zurückgestutzt, die Leiter ist kurz, die reicht nur bis in den Dachstock. Der Alte spürt, dass sein Hintern hart wie Holz ist, versucht sich anders hinzusetzen, die eingeschlafenen Beine anders zu platzieren. Plötzlich verliert er beinahe das Gleichgewicht, eine Welle der Angst peitscht ihm ins Gesicht, das Herz fängt vor Angst an, wie wild zu schlagen, mit Unterbrechungen.
„Jesses, fall nur nicht runter!“, hört er die Stimme seiner Frau rufen. „Pass auf, bleib ruhig sitzen, der Danius vom Prancisius hat Vincelis angerufen, die Feuerwehr kommt.“
Die Feuerwehr kommt, sieh mal einer an, sie werden ihn wie eine Katze von der Linde holen. Nein, er wird sich nicht wie ein kleines Kind vom Baum heben lassen, wie ein abgenutztes Ding. Das Herz in seiner Brust flattert, dann beruhigt es sich wieder, wird ganz leicht. Der Alte steht im Geäst auf, hebt die Beine ruhig über einen krummen Ast – alles in Ordnung, er ist noch gar nicht so alt, nicht so ungelenk. Und wenn schon … Zieht man zehn Jahre ab, würde er wie sein getigerter Kater flink vom Baum klettern, obwohl auch der einst im Baum stecken blieb. Plötzlich zerzaust der Wind Laurinavičius’ Haar, wirbelt durch das Geäst. Das Hemd des Alten flattert wild.
Das ist der Wind!
Das ist der Maienwirbel!
Der Alte würde gern mit ihm davonfliegen.
Aber was ist das, das durch das Heulen des Windes an seine Ohren dringt?
Die Feuerwehr.
Die Feuerwehr schimmert riesig und rot zwischen den Bäumen hindurch.
Nein, erst hört er die Sirene. Sie heult so laut, dass gar die Fenster im Städtchen erzittern. Natürlich ist das Absicht. Vincelis macht Radau. Um sich über den Alten lustig zu machen – Achtung!, eine wichtige Meldung, ich hole den Blödmann von Laurinavičius von der Linde herunter. Die Menge teilt sich, die Feuerwehr bleibt seitlich neben dem Baum stehen, Vincelis machte die Sirene aus, steigt aus und sagt etwas zu Laurinavičius, aber der hört nichts, nur das Pfeifen des Windes. Dann bildet der Feuerwehrmann mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und brüllt.
Und plötzlich spürt Laurinavičius, wie der Wind ihn emporhebt. Ja, in die Lüfte – das Hemd empfängt den Wind wie ein Segel, wie ein Drachen. Der Alte bekommt es mit der Angst zu tun, er hält sich an einem Ast fest, doch dann fasst er sich ein Herz: Er wollte doch schon immer fliegen, ist noch nie geflogen, jetzt aber ist er dazu entschlossen. Die werden staunen! Wozu die Feuerwehr rufen, wozu all der Lärm, der alte Laurinavičius ist selbst auf den Baum gestiegen und kann doch so lange dort oben hocken, wie es ihm gefällt, und dann wieder selbst heruntersteigen. Oder herunterfliegen – nach eigenem Gutdünken. Der Alte lässt den Lindenast los und erhebt sich ganz langsam, ganz ohne Eile in die Lüfte, die Maienwirbel tragen ihn. Er lacht glücklich, er freut sich, als er sieht, dass unten alle verstummen, so ein Wunder haben sie noch nie gesehen, sie lassen die Arme sinken, den Mund vor Staunen weit offen. Der Alte denkt nicht daran, wie er landen oder wohin er fliegen wird, das kommt ihm unwichtig vor. Er erhebt sich über die Linde hinaus, fast hätte er die Stromleitung berührt, er erschrickt ein wenig, doch dann gibt er sich erneut dem Wind hin und fliegt immer höher. Die ganze Umgegend tut sich in ihrer vollen Schönheit vor seinem Blick auf. Alles ist hier, alle Pfade, an einige kann er sich kaum mehr erinnern. Auch die Kirche. So weiß, das Dach so rot – ein herrlicher Anblick für den Herrn des Hauses, denkt Laurinavičius bei sich. Er hätte weinen können, doch der Wind trocknet seine Augen.
Vögel fliegen vorbei. Schnelle und glückliche Tauben.
Löwenzahnflaum fliegt vorbei. Winzig, wie kleine Fallschirme.
Die Zeit fliegt vorbei. Die vergessene und wieder erwachte Jugend.
Der Mond fliegt vorbei. Die gewetzte Sichel des Halbmonds.
Ist das ein Wind, denkt Laurinavičius, ist das ein Wind … Ach Malenija, wenn du wüsstest, dass du mit mir fliegen könntest. Jetzt weiß Laurinavičius, jetzt weiß er genau, was sein Aleksas fühlt, wenn er mit dem Hubschrauber fliegt.
Was noch fliegt vorbei? Sein getigerter Kater. Gut, dass er am Leben ist, das liebe Dummerchen. Herrgott, war das ein Wind, sogar seinen Kater hat er gepackt und wirbelt ihn herum – als wäre die Physik außer Kraft gesetzt.
Die Leute stehen da und staunen, die Münder weit geöffnet. Die Köpfe in den Nacken geworfen, sie atmen kaum. Laurinavičius sieht sie an und lächelt. Ihm kommt das merkwürdig vor – was tun sie nur hier? Warum sind sie hier zusammengekommen? Wegen eines einfachen fliegenden Menschleins, das den Iltissen das Fell abzieht, das sich um alle kümmert, da jemand das tun muss?
Was sehen sie, woran denken sie, voller Staunen und Ernst? Warum winken sie jetzt und wozu raten sie Vincelis, der die rote Feuerwehrleiter mit den Beinen umklammert. Wen holt er da vom Baum herunter? Wer ist der Alte mit dem Hemd, aufgeblasen wie ein Segel?
Laurinavičius sieht, wie der alte Mann mit großer Mühe aus der Linde klettert, wie die Feldscherin dem glatzköpfigen Alten zu Hilfe eilt. Er sieht, wie sich die Nachbarn über diesen alten, unbekannten Mann beugen. Er sieht, wie jener wieder zu sich kommt und leer dreinblickt. Man fragt ihn etwas. Offenbar antworten die Nachbarn.
Schön, alles von oben zu betrachten. Und gut. Der Mond, dieser Frühlingsmond, lässt Leben und Kraft auf und ab wogen. Trägt sie mit den Winden fort.
Ach, die Maienwirbel!
Die Rallye des blauen Abends
Wir warteten. Saßen auf der mächtigen, vornübergebeugten Korbweide und warteten. Weit unter unseren baumelnden Beinen, unter der alten Weide, befand sich eine Straße mit einem tiefen Straßengraben, an dessen Hang dieser Baum wuchs, dessen Rinde wir mit unseren Armen, Beinen und Hintern schon tüchtig abgerieben hatten. Das war unser Geheimversteck, aus dem wir Kinder die auf der Straße vorbeigehenden Menschen beobachteten, die unter uns hindurchtauchenden Autos und Fahrradfahrer mit Kirschkernen bewarfen. Die Kirschen pflückten wir gleich hier: Über die schaukelnden Äste gelangten wir zum Punkt, wo sich die Weide mit Raškevičius’ gewaltigem Kirschbaum verflocht, der voller Beeren, Vögel und im Wind wehender Vogelscheuchen war.
Heute waren wir besonders still. Ich saß da und ließ die Beine baumeln, auch Gintas schwieg, und sogar Rimvis, der nicht ruhig sitzen kann. Wir warteten. Das ganze Städtchen wartete: Niemand ging oder fuhr, sogar die Vögel und Hunde auf den Höfen schwiegen. Vor einem rußgeschwärzten Haus saß auf einer niedrigen, mit grünem Moos und gelblichen Flechten überwachsenen Bank der alte Šeikis, die Hände des Flieders wogten über ihm auf und ab wie Fächer – auch er sagte fast nichts, brüllte nicht, drohte nicht, sondern nuschelte nur etwas in den Bart und paffte seine Papirossa der Marke „Kasbek“, während seine Hände verschränkt auf einem Stock mit einer Beule lagen.
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